„maischberger. die woche“. ARD, Mittwoch, 23.Februar 2022, 23 Uhr.
Lange eierte der Kanzler herum, jetzt darf der Wirtschaftsminister Putins Pipeline endlich blockieren. Die seriöse Politik zieht voll mit, aber es gibt auch bei uns immer noch Trickser, Täuscher und Trolle. Viel Zoff-Zunder für Sandra Maischbergers „Woche“-Show! Die Gäste:
Robert Habeck (52, Grüne). Der Bundeswirtschaftsminister nennt die Röhre ein „Klumpenrisiko durch die Ostsee„.
Friedrich Merz (66, CDU). Der Oppositionschef kennzeichnet den russischen Präsidenten umstandslos als „enthemmten Kriegstreiber“.
Sigmar Gabriel (58, SPD). Der Ex-Außenminister, lange ein Fan, sieht für das Gas-Projekt jetzt nicht mehr „den Hauch einer Chance“.
Ljudmyla Melnyk (31). Die Ukraine-Expertin des Instituts für Europäische Politik schildert die Nöte der Familien.
Kristina Dunz (55). Die Journalistin (RND) twittert: „Dialog war gestern. Jetzt kommt der ‚sehr hohe Preis‘. Leider nicht nur für Putin.“
Hubert Seipel (72). Der Autor („Putin. Innenansichten der Macht“) gilt als Paradebeispiel eines „Putin-Verstehers“.
Politiker, Betroffene, Medienleute. Erstklassige Besetzung! Auch erstklassige Argumente? In Kriegs- und Krisenzeiten zählt das Zoff-o-Meter Schwachmaten besonders schnell an!
Eingespieltestes Herrendoppel
Merz war bis 2019 Chef der deutsch-amerikanischen Stiftung „Atlantikbrücke“, Gabriel ist sein Nachfolger. Jetzt zeigen die beiden einen flotten Mix aus Aufschlägen und Returns.
Gabriel serviert die erste Einschätzung: „Jetzt testet Putin, ob es bei uns welche gibt, die ausbrechen. Er kennt uns ziemlich genau. Er weiß, wo unsere weichen Stellen sind.“
„Ich finde, dass man im Augenblick die Lage gar nicht kritisch genug einschätzen kann“, fügt Merz hinzu. Die Rede Putins sei „nicht überraschend“ und „eine weitere Eskalation“.
Tiefgründigste Analyse
„Die Rede hat einen tiefen Einblick in seine Weltsicht gegeben“, erläutert Gabriel. „Er hat ja alles kritisiert, was nach dem Niedergang des Zarenreiches passiert ist.“
Wichtigste Erkenntnis: „Es geht darum, dass er Russland wieder als europäische Großmacht installieren will. Er will über das Schicksal Europas reden, aber nicht mit Europa.“
Geschichtsbewussteste Perspektive
„Er will ein Territorium sichern, das die alte Sowjetunion schon einmal hatte“, sekundiert Merz. „Das ist imperialistisch!“
Sein historischer Vergleich: „Mich erinnert unsere Reaktion an das, was 1938 auf der Münchner Konferenz passiert ist, als es um das Sudetenland ging.“
Beängstigendste Prognose
Die Stationen des Putin-Plans zählt Merz an den Fingern ab: „Er wird das Land so weit destabilisieren, dass er am Asowschen Meer Zugang zur Krim hat, den Zugang der Ukraine zum Schwarzen Meer blockiert und in Kiew eine russlandfreundliche Regierung installiert.“
Bedrückendste Selbsterkenntnis
„Wir sind alle etwas zu naiv gewesen“, gesteht der CDU-Chef dann. „Wir haben geglaubt, dass man Außenpolitik durch Annäherung, durch wirtschaftliche Entwicklung, durch Dialog-Foren machen kann. Das hat Putin brachial mit Waffengewalt zerbrochen!“
Schlimmste Genossinnen-Schelte
Maischberger zitiert SPD-Chefin Saskia Esken, die nach dem Rettungsversuch des Bundeskanzlers im Kreml frohlockte: „Putin zieht Truppe teilweise ab. Das ist das erste Ergebnis einer beeindruckenden Krisendiplomatie der Ampelregierung.“ Heidewitzka, Frau Kapitän!
„Das zeigt die Überschätzung unserer Rolle“, watscht Gabriel die Genossin ab.
Merz nimmt sich Manuela Schwesig zur Brust: Die SPD-Ministerpräsidentin ist gemeint, als der CDU-Chef wettert, in der SPD gebe es Kräfte, „die sogar bis in diese Tage hinein versucht haben, mit einer zweifelhaften Stiftung drohende Sanktionen (gegen Nord Stream 2) zu unterlaufen.“ Das sei „ein ziemlich übles Spiel“.
Realistischste Einschätzungen
„Diese Pipeline wird jahrelang nicht in Betrieb genommen werden“, sagt der CDU-Chef voraus. „Aber wir sind in der Lage, Europa unabhängig von russischem Gas mit Energie zu versorgen.“
Wichtigste Bedingung: „Wir dürfen jetzt nicht auf weitere Optionen verzichten. Hier noch zu erklären, wir könnten das alles schnell abschalten und nur in Wind und Sonne machen, das ist eine ziemliche Illusion!“
Über die Sanktionen sagt Gabriel: „Ich bekomme ganz viel Post von Leuten, die schreiben: Das trifft uns doch selber. Meine Antwort: Ja, der Frieden hat einen Preis, wir sind bloß gewohnt, dass wir den nicht mehr bezahlen mussten.“
Ehrlichstes Eingeständnis
„Ich war für Nord Stream, weil ich dachte, wir hätten eine Friedensdividende in der Energiepolitik“, gibt der Ex-Außenminister zu. „Jetzt merken wir: Russland hat die Friedensdividende beendet. Das ward uns was kosten. Aber der Frieden muss uns auch was wert sein!“
Sein schlagendes Beispiel: „Willy Brandt wird in diesen Tagen so oft zitiert, mit der Ostpolitik“, erklärt Gabriel mit erhobenem Zeigefinger, aber: „Brandt war nur deshalb verhandlungsfähig gegenüber (Sowjet-Chef) Breschnew, weil er in der NATO war!“
„Putin weiß ganz genau, dass die Chinesen ihn als zweitklassig ansehen“, fügt Gabriel noch hinzu. „China glaubt so ein bisschen wie Helmut Schmidt, was Russland ist: Obervolta mit Nuklearwaffen.“
Erschütterndste Infos
„Sehr erniedrigend“ findet Ukraine-Expertin Melnyk Putins bösen Spruch, in Kiew würden „Marionetten“ regieren. „Ich bin auch Mutter und in einigen Facebook-Foren unterwegs“, berichtet sie bedrückt. „Da besprechen jetzt die Mütter: Was sollen wir außer der Brotbox den Kindern in die Schule mitgeben? Sollen wir aufschreiben, welche Blutgruppe das Kind hat?“
Ärgerlichster Kommentar
„Das Völkerrecht bricht immer der Gegner“, höhnt der Putin-Biograph und gibt in alter Kreml-Tradition dem Opfer die Schuld: Kiew habe gegen die Minsker Verträge verstoßen.
„Die Ukraine hat das Völkerrecht gebrochen?“ staunt die Talkmasterin.
Das traut sich Seipel denn noch nicht zu sagen, wiegelt aber ab: „Putins Aufmarsch war eine Mischung zwischen Diplomatie und Muskelspielerei.“
„Ich habe nicht verstanden, was da militärische Muskelspiele sind, wenn da über 100.000 Soldaten an die Grenze ziehen!“, funkt Journalistin Dunz dazwischen. „Das ist doch eine ganz ernsthafte Bedrohung!
Frechste Provokation
Die Ukrainerin erklärt, Putin habe vor allem Angst vor der Demokratie, die von Westen her immer näher rücke. Prompt müllt der Putin-Biograph die Runde mit Putins Propaganda zu, z.B. dass an der Krise die Amerikaner schuld seien. Also bitte!
„Putin will auf die Weltbühne zurück“, erklärt Dunz.
„Woher nehmen Sie die psychologischen Kenntnisse?“ fährt Seipel die Journalistin an. „Sie haben ihn doch nie getroffen!“ Er selbst aber schon, soll das heißen
Dunz wehrt sich: Sie sei seit 2010 in jeder Pressekonferenz mit Putin gewesen und habe….
„…diese psychoanalytischen Schlüsse gezogen!“ spottet Eitel-Seipel grinsend. Spätestens hier müsste Schiedsrichterin Maischberger eingreifen, aber die Pfeife bleibt stumm.
Alarmierendste Feststellung
Habeck macht Schluss mit dem Quatsch: „Das fand ich jetzt manchmal etwas schwer, das beim Zuhören zu ertragen!“, grollt er. „In der Tat stehen wir kurz vor einem massiven Landkrieg in Europa!“
Seine Befürchtung: „Im Moment fehlt jede Idee, wie man nach der Rede und der Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken wieder in ein diplomatisches Gespräch einsteigen kann.“
Persönlichste Frage
„Es ist eine klare, aggressive, von Russland herbeigeführte Situation, die auf einen Angriffskrieg deutet, wie wir ihn in Europa seit vielen Jahrzehnten so in der Bedrohungslage nicht gesehen haben“, stellt der Minister dazu fest.
„Sie haben Angst vor diesem Krieg“, vermutet die Talkmasterin. „Ich muss da nicht kämpfen“, erwidert Habeck, „Aber wenn er passiert, werden viele Menschen sterben.“
Umfassendste Lagebeurteilung
„Wir erleben eine tiefe Zensur der deutschen, europäischen und transatlantischen Politik, die auch, wenn es nicht zu einem Krieg kommt, nicht ohne Folgen bleiben wird“, prophezeit der Minister. „Sie wird den Energiesektor, die Ausrichtung der Wirtschaft, auch die Wehrhaftigkeit der Bundeswehr völlig neu ausrichten.“
Gretchenfrage des Abends
„Müssen Sie heute den deutschen Verbrauchern sagen, das werdet ihr in eurer Geldbörse spüren?“, will Maischberger wissen.
„Da bin ich erstens nicht sicher, dass es so kommt“, beruhigt Habeck, „weil sich die kurzfristigen Schwankungen über das Jahr ausgleichen können.“
Hoffnungsvollste Erwartung
„Zweitens können wir an Alternativen arbeiten“, hofft der Minister. Jetzt gehe es um „einen föderalen Konsens, dass wir ernst machen und nicht über Verfahren reden, die Jahre oder Jahrzehnte dauern, um Stromnetze, Kraftwerke oder erneuerbare Energien auszubauen.“
Die gefährliche Situation sei „auch eine Chance“, meint Habeck zum Schluss. „Sie muss auch dazu führen, dass wir aus dieser Larmoyanz des Gestaltens herauskommen und mit dem endlich ernst machen, was wir auch sicherheitspolitisch erkannt haben.“ Amen!
Fazit
Bewegende Klagen und beklemmende Sorgen, aber immer wieder auch ärgerliche Lügerei, grinsender Spott und nervtötendes Faktenvoodoo. Das war eine Talkshow der Kategorie „Schützengraben“.