„Anne Will: Solidarität mit der Ukraine – wozu sind Deutschland und Europa bereit?“ ARD, Sonntag, 19.Juni 2022, 21.45 Uhr.
Putin bombt, schießt und mordet immer brutaler: Er will die Zeit nutzen, die der Westen noch braucht, um jetzt endlich die schweren Verteidigungswaffen in den Donbass zu liefern. Talkmasterin Anne Will fragt interessante Gäste:
Ursula von der Leyen (63, CDU).Die EU-Kommissionspräsidentin verspricht: „Die Ukrainer können auf ihrem Weg nach Europa auf unsere Unterstützung zählen!“ Sie wird aus Brüssel zugeschaltet.
Dmytro Kuleba (41). Der ukrainische Außenminister sieht im Beitrittskandidatenstatus einen enormen „Schub für die weitere Transformation der Ukraine“.
Johann David Wadephul (59, CDU). Der Fraktionsvize schlägt Alarm: „Die Ukraine braucht in dieser Phase des Krieges neben Artillerie auch Kampf- und Schützenpanzer. Sonst gibt es bald keine Ukraine mehr, die sich um einen EU-Beitritt bemühen kann!“
Michael Müller (57, SPD). Der Ex-Bürgermeister kommt heute als Ersatzmann für seine erkrankte Parteichefin von der Bank.
Claudia Major (45). Die Sicherheitspolitikerin rät dazu, der Ukraine jetzt auch neueste Waffen aus dem Beständen der Bundeswehr zu schicken.
Christoph Schwennicke (56). Der Journalist („Corint Media“) lehnt ein „Schnellverfahren für die Ukraine“ ab.
Von Anne Will unerwähnt: Saskia Esken (60, SPD) sagte ab, twitterte vier Stunden vor der Sendung: „Ich werde wohl für ein paar Tage ganz ausfallen: zu meinem gebrochenen Fuß ist eine Covid19-Infektion dazugekommen.“ Gute Besserung!
Positivste Zwischenbilanz
Zum Anpfiff zeigt die Talkmasterin ein kurz zuvor aufgezeichnetes Interview mit von der Leyen in Brüssel. Wichtigste Erkenntnis der Kommissionspräsidentin: „Die Ukraine hat enorme Schritte nach vorne gemacht in den letzten Jahren.“ Ihre Unterstützung sei „nicht nur in unserem strategischen Interesse, sondern auch unsere moralische Verpflichtung.“
Von der Leyens ermutigende Bewertung: „Die Ukraine ist eine robuste parlamentarische Demokratie. Sie hat eine ganz lebhafte Zivilgesellschaft. Sie hat die Institutionen für die Rechtsstaatlichkeit reformiert. Vor dem Krieg nur zwei Prozent Defizit und 50 Prozent Verschuldung, da kann sich mancher Staat in der EU eine Scheibe davon abschneiden!“
Ernüchterndste Erklärungen
Für alle Beitrittskandidaten gelte, so die Präsidentin weiter: „Diese Länder haben es selber in der Hand, wie schnell dieser Prozess geht. Sie müssen die notwendigen Reformen liefern.“
Beispiele: Die Korruptionsbekämpfung der Ukraine „geht seit sechs Jahren in die positive Richtung“, urteilt von der Leyen. Bei der Besetzung von Richterstellen wiederum sei es „brutal einfach: Die meisten sind an der Front! Die können sich dem bewerbungsverfahren jetzt nicht stellen.“
Hoffnungsvollste Erwartung
Zur Ukraine-Entscheidung der 27 Staats- und Regierungschefs auf dem EU-Gipfel am Donnerstag sagt von der Leyen: „Inzwischen ist es uns gelungen, viele zu überzeugen. Ich gehe fest davon aus, dass wir einen positiven Bescheid kriegen.“
Ihre optimistische Vorhersage: „Natürlich ist das eine historische Entscheidung, die der Europäische Rat jetzt treffen muss. Aber die Vorbereitungen sind gut, die Weichen sind jetzt gestellt und ich bin zuversichtlich.“
Deutlichste Warnung
Der ukrainische Außenminister macht trotzdem weiter Druck: „Es wäre ein historischer Fehler der europäischen Führungspolitiker, die Gelegenheit zu verpassen, jetzt zu demonstrieren, dass die Europäische Union ein starker Akteur ist“, mahnt er.
„Und“, so Kuleba weiter, „dass die EU nicht nur darauf konzentriert ist, aktuelle Probleme zu lösen, sondern eine klare Vision für die Zukunft Europas hat.“ Rumms!
Kritischstes Statement
Journalist Schwennicke fischt das dickste Haar aus der Suppe: „Ich finde, Politik sollte nicht von Moral aufgeladen sein“, murrt er. „Die Ukraine hat eine große Affinität zu Europa, gerade deswegen ist sie ja auch von Putin überfallen worden, nur: Das macht sie noch nicht zu seinem Musterland.“
Sein Haupteinwand: „Präsident Selenskij war vorher Schauspieler und hat eine sehr lustige Satire über die Korruption gedreht. Das ist in der Realität gar nicht witzig.“ Im Korruptionsranking liege die Ukraine ganz weit hinten und nur noch knapp vor Russland. Uff!
Treffsicherster Konter
Sicherheitsexpertin Major gibt erst mal eine Runde Beruhigungspillen aus: „Wenn jetzt der Kandidatenstatus verliehen wird, heißt das nicht, dass die Ukraine morgen beitritt“, erklärt sie. „Das ‚Schnell‘ ist für mich vom Tisch, das ist eine falsche Debatte.“
Ihr überzeugendstes Argument: „Das ist kein Almosen, das wir der Ukraine geben. Wir werden sehr viel Finanzmittel und Kraft in den Wiederaufbau investieren. Für uns ist es am interessantesten, wenn das in einem geordneten Rechtsrahmen wie der Europäische Union stattfindet.“ Passt!
Aber, so Major weiter: „Wenn sich die EU nicht reformiert, gibt es ein großes Risiko, dass sie sich überhebt.“
Vorwurfsvollste Frage
„Die europäische Integration der Ukraine war ein Prozess, in dem wir auch Skepsis und Vorurteile überwinden wollten“, erklärt der Außenminister. „Vor weniger als einem Monat, als ich in Deutschland war, sagte mir niemand, dass Deutschland den Kandidatenstatus der Ukraine unterstützen würde.“
Sein Ärger: „Wieso hat es so lange gedauert, in überhaupt anzuerkennen, dass die Ukraine zu Europa gehört?“
Billigster Seitenhieb
Oppositionspolitiker Wadephul lobt den Einsatz des Kanzlers für die Beitrittsperspektive der Ukraine: „Das war ein klares, auch starkes europäisches Signal.“
Auch der Kommissionspräsidentin steckt er Lorbeeren auf: „Ich finde es eine große Führungsleistung von Ursula von der Leyen, das zu machen und auch in ein Risiko hineinzugehen.“
„Die, das wissen die Menschen, wie Sie CDU-Mitglied ist“, grient die Talkmasterin spöttisch. Ei der Daus!
Unwillkommenste Ermahnung
Müller lobt seinen Kanzler: „Der richtige Zeitpunkt für so ein klares Statement! Ich gehe von einem genauso klaren Statement des europäischen Rates aus, dass der Kandidatenstatus kommt.“
Dann aber gießt der Außenpolitiker Bedenkenwasser in den Ukraine-Wein: „Eine Sache dürfen wir nicht vergessen: Dass es sehr viele Kandidaten gibt. Die dürfen nicht verprellt werden. Da haben viele schon viel erreicht, und es darf nicht der Eindruck entstehen, als ob unsere Kriterien passend gemacht werden.“ Ui!
Bitterste Bilanz
Ein ARD-Einspieler vergleicht die Lieferungen schwerer Waffen. O-Ton: „Deutschlands Beitrag im Vergleich zu anderen Staaten ist gering. Bislang nur Platz 8, hinter deutlich kleineren Ländern wie Estland oder Lettland.“
Kulebas diplomatischer Kommentar: „Kanzler Scholz war wirklich sehr entgegenkommend bei der Frage der Zusammenarbeit mit der Ukraine im Bereich der Verteidigungsfähigkeit. Wir hoffen, dass Deutschland mehr tun wird, aber letztlich liegt es auf deutscher Seite, diese Entscheidung zu treffen.“
Psychologischste Diagnose
Zur Kritik des ukrainischen Präsidenten, Scholz dürfe nicht eine Balance zwischen der Ukraine und Russland suchen, sondern müsse Prioritäten setzen, sagt der Au0enminister: Beim letzten Gespräch habe er Scholz „anders wahrgenommen“, und zwar „sehr entgegenkommend und mit viel Verständnis für die Ukraine“.
Kulebas Erklärung für diesen Wandel: „Vielleicht, weil er nach Irpin und Butscha gegangen ist und dort die Zerstörungen gesehen und ein Verständnis für die Grausamkeiten und Kriegsverbrechen entwickelt hat.“
Entschlossenste Ansage
Danach will der Minister noch einen Verdacht loswerden: „Wenn irgendjemand im Westen glaubt, dass, wenn wir uns Zeit lassen, die Ukrainer nicht mehr kämpfen können und den Russen gegenüber Zugeständnisse machen würden“, warnt er, „dann kann ich Ihnen versichern, dass das so nicht geschehen wird.“
Denn, so Kuleba direkt in die betretenen Gesichter der anderen: „Wenn wir keine Waffen erhalten, in Ordnung – dann werden wir mit Schaufeln kämpfen. Aber wir werden uns verteidigen. Und wenn Waffen später geschickt werden, werden wir nach wie vor Danke sagen, aber dann werden viele Menschen gestorben sein.“
Eindringlichster Appell
„Ich bin mit dem Verständnis großgeworden, dass die gesamte europäische Politik nach dem Zweiten Weltkrieg letztlich auf der Idee der moralischen Werte und Prinzipien basierte“, mahnt der Minister.
Seine Forderung: „Wir müssen rational und auch pragmatisch bleiben, aber wir sollten moralische Argumente nicht ausschließen.“
Realistischste Charakterisierung
Über die Anrufe des Kanzlers im Kreml sagt der Minister: „Das Problem ist, dass Putin Argumente gar nicht hören möchte. Putin hat über Jahre gelogen. Noch vor dem Krieg hat Putin Kanzler Scholz am Telefon angelogen!“
Kulebas eindringliche Warnung: „Ob Sie mit Putin sprechen oder nicht: Er tut einfach, was er tun möchte. Er lügt, er betrügt, das sollten wir alle im Kopf behalten!“
Dramatischste Verabschiedung
„Sie können nur bis 22.20 Uhr bei uns bleiben, und zwar aus Sicherheitsgründen“, hat die Talkmasterin zuvor „mit einem Blick auf die Uhr“ erklärt. Und pünktlich beendet sie nun auch die Schalte:mh „Vielen Dank, dass Sie uns so viel Zeit geschenkt haben, in einer wahnsinnig schwierigen Situation!“
Bedenklichstes Lagebild
Danach zählt Will die enormen Verluste der Angegriffenen an Menschen und Material auf. „Wie lange kann die Ukraine dem massiven Beschuss der Russen eigentlich noch standhalten?“, bangt sie.
„Ohne unsere westliche Unterstützung nicht mehr lange“, macht die Sicherheitsexpertin klar. „Momentan unterstützen wir nicht genug. Wir sind jetzt in einer Phase, wo der den Krieg gewinnt, der länger durchhält.“
Letztes Gefecht
Dann zählt Major an den Fingern auf: „Militär, Logistik, Finanzen, Wirtschaft, Moral. Alle diese Elemente sind wichtig.“
Wadephul erinnert zum Schluss an das legendäre Zitat eines „inzwischen verstorbenen“ SPD-Ministers: „Peter Stuck hat mal gesagt, dass unsere Freiheit am Hindukusch verteidigt wird“, mahnt der CDU-Mann. „Heute geschieht das in der Ukraine. Je schneller und effektiver wir diesen Krieg beenden, umso besser auch für Deutschland.“
Zitat
„Je später Sie uns die Waffen schicken, desto mehr Menschen werden sterben.“ Dmytro Kuleba
Fazit
Militärische Azubis gegen schussfeste Grabenkämpfer, parteipolitisches Kalkül gegen staatsmännische Verantwortung, kühle Klugmeiereien gegen emotionalen Durchhaltewillen und immer wieder spezielle deutsche Befindlichkeiten: Das war ein Talk der Kategorie „Etappenängste“.