„Maybrit Illner: Reise nach Kiew – warme Worte oder echte Hilfe?“ ZDF, Donnerstag, 16.Juni 2ß22, 21.30 Uhr.
Der Kanzler im Krieg! Scholz spricht über schwere Waffen, aber auch den heiß ersehnten EU-Kandidatenstatus für das geschundene Land. Maybrit Illner stellt die fälligen Fragen. Ihre Gäste:
Ralf Stegner (62, SPD). Der Parteivize warnte am Nachmittag in BILD TV: „Putin darf nicht durchkommen, die Ukraine darf keinen Diktatfrieden bekommen!“
Roderich Kiesewetter (58, CDU). Der Verteidigungspolitiker und Oberst a.D. hoffte gleichzeitig in WELT TV, die drei EU-Schwergewichte Scholz, Macron und Draghi seien „nicht an einer Waffenstillstandslinie interessiert, an der sich die Russen dann eingraben würden.“
Andrij Melnyk (46). Der ukrainische Botschafter hat sich als Mahner unbeliebt gemacht, aber durchgesetzt: „Die Ukraine wird diesen Krieg gewinnen!“
Katja Gloger (62). Die Journalistin („Stern“) twitterte schon zu Kriegsbeginn: „Für Putin wird man keine Denkmäler errichten.“
Anne Gellinek (60). Die ZDF-Korrespondentin wird aus Brüssel zugeschaltet.
Erprobte Meinungsprofis im Klar-Wahr-Modus. Das ZDF hat heute mal keinen Bock auf akademische Querschläger!
Druckvollste Statements
„Ein wichtiger Besuch für die Ukraine“, kommentiert Botschafter Melnyk, „aber hoffentlich auch für den Bundeskanzler, weil er sich vor Ort ein Bild machen konnte, wie verzweifelt die Lage ist. Dementsprechend hoffen wir, dass der Kanzler auch das Gefühl für die die Dringlichkeit bekommen hat.“
Die Unterstützung für den EU-Kandidatenstatus seines Landes gebe, so Melnyk weiter, „ein bisschen Hoffnung, dass der Kanzler diese Einstimmigkeit, die ja benötigt wird, in den nächsten Tagen in Brüssel erreichen wird. Da sind wir noch nicht über den Berg.“
Unterschiedlichste Bewertungen
Stegner sieht die Reise als „starkes europäisches Signal“. Illners Titelfrage „warme Worte oder echte Hilfe“ beantwortet der SPD-Vize mit einem zackigen „beides!“
„Ein sehr starkes Zeichen“, assistiert Kiesewetter, es seien ja drei Gründungsmitglieder der EU nach Kiew gefahren. Unterschied: „Macron hat sich sehr klar dazu bekannt, dass die Ukraine gewinnen muss und dass Waffenlieferungen schnell erfolgen müssen. Deutschland ist das Land, das sehr viel ankündigt und sehr viel spät macht.“ Rumms!
Berechtigtste Forderung
Dann hackt die Handkante des CDU-Politikers über den Tisch: „Was wir direkt liefern könnten, wie ‚Marder‘ oder ‚Leopard‘, liefern wir immer noch nicht. Vier ‚Mars‘-Werfer wurden auf drei reduziert!“, kritisiert er. „Also ich wünschte mir da schon noch etwas mehr Konkretes!“
Zufriedenste Kommentare
„Heute ist ein guter Tag!“, freut sich „Stern“-Journalistin Gloger, denn: „Die Ukraine hat eine europäische Perspektive. Das kann Putin nicht anders als eine große politische Niederlage interpretieren.“
„Ein Befreiungsschlag!“, stimmt ZDF-Korrespondentin Gellinek ein. „Der nächste Schritt sind Beitrittsverhandlungen!“ Allerdings, so ihr Wermutstropfen: „Sachlich heißt das noch gar nichts, wir reden von einem Jahrzehnt“, bis die Ukraine wirklich EU-Mitglied sei. Uff!
Realistischstes Lagebild
„Der EU-Beitritt ist kein Geschenk an die Ukraine“, betont der Botschafter, „sondern etwas, das auch im ureigenen Interesse der Bundesrepublik ist. Kein anderes Land hat mehr von der Osterweiterung der EU profitiert, wirtschaftlich, aber auch politisch.“
Stegner legt den Kopf schräg, doch Melnyk erhöht seinen erfolgreichen Lästigkeitsdruck noch weiter: „Wir wollen keine Bittsteller sein! Wir haben gezeigt, dass wir in der Lage sind, nicht nur uns zu verteidigen, sondern auch andere Partner, Thema Nato! Es geht darum, dass die Deutschen den Worten Taten folgen lassen!“
Deutlichster Dringlichkeitsantrag
Für die Ukraine sei der Besuch eine „Ehre“ und „auf jeden Fall eine starke Message“, lobt der Botschafter, allerdings: „Wir brauchen Jahre, um die Beitrittskapitel abzuarbeiten, aber wir müssen jetzt überleben!“
Kiesewetter haut in die Kerbe: „Wir sind das Land in Europa, das über die größten Vorräte an Kampfpanzern und Schützenpanzern verfügt“, stellt der CDU-Politiker fest. „Wir haben von der Industrie die Möglichkeit, 100 Panzerhaubitzen 2000, über 30 ‚Marder‘, über 30 ‚Leoparden‘ zu liefern, aber die Genehmigung hat das Kanzleramt nicht erteilt!“
Dann springt das Zoff-o-Meter an
Stegner hat mit wachsender Ungeduld zugehört. Jetzt empört er sich über den zuerst bereits Anfang Juni von Oppositionschef Friedrich Merz geäußerten Verdacht eines Doppelspiels im Kanzleramt: „Das mit der
‚zweiten Agenda‘ ist schon ein bisschen unverfroren“, poltert er los, „weil da ja eigentlich ein Verratsvorwurf dahintersteckt!“
Sein Konter: „Wilde Interviews geben ist sehr einfach. Die Behauptung, Deutschland stehe auf der Bremse, ist falsch!“
Herzhaftester Nasenstüber
Prompt zeigt die Talkmasterin Zahlen: Polen schickte der Ukraine 230 T-72-Panzer. Tschechien 61 Schützenpanzer. Frankreich 12 ‚Caesar‘-Haubitzen. Das kleine Estland leistete Militärhilfe für 220 Millionen Euro. Die USA lieferten Waffen für 4,4 Milliarden Euro. Illners spitze Frage: „Finden Sie immer noch, dass wir alles getan haben?“
Stegners rettet sich in ein taktisches Ausweichmanöver: „Ich finde, dass wir, wenn man es nicht verengt auf die militärische Frage, sehr wohl die Ukraine nach Kräften unterstützen“, erwidert er, „und die Verengung auf die militärische Frage halte ich persönlich für falsch.“ Puh!
Schlappster Gegenstoß
Kiesewetter setzt zügig nach: „Die Industrie wäre bereit gewesen, über 50 ‚Leopard‘ und Marder‘ bereits im April zu liefern“, hält er dem SPD-Kollegen vor. „Sie wäre auch bereit, rund 100 Panzerhaubitzen 2000 zu liefern. Das wurde nicht gemacht!“
Stegners trotzige Antwort: „Sie wissen schon, die Industrie entscheidet das nicht, in Deutschland.“ Uiuiui…
Wichtigste Ansagen
„Deswegen werden wir das nächste Woche thematisieren“, kündigt der CDU-Mann unverdrossen an, „und wir werden versuchen, in einer Debatte und mit einem Antrag noch einmal deutlich herauszuarbeiten, dass Deutschland mehr tun kann. Und wir stehen ja hinter der Regierung!“
Die ZDF-Korrespondentin gewährt „eine kleine Einsicht aus dem europäischen Maschinenraum“: Natürlich werde es in Brüssel „schon so wahrgenommen, dass die deutsche Regierung zwar Ankündigungen macht, aber dann fast immer hinter diesen Ankündigungen zurückbleibt“, meldet sie.
Der Botschafter bringt es auf den Punkt: „Bis zu diesem Tage gibt es in der Ukraine keine einzige schwere Waffe aus Deutschland im Einsatz“, klagt er. Ächz!
Emotionalster Appell
Über die Ressourcen der Bundeswehr ist Melnyk bestens informiert: „Wir wissen, dass Deutschland über 800 ‚Fuchs‘-Transportpanzer verfügt, oder 300 ‚Leopard 2‘ und 300 ‚Marder‘“, zählt er auf und fügt händeringend hinzu: „Es geht um Schnelligkeit! Jeder Tag kostet viele Menschenleben!“
Dabei gehe es nicht nur um die Bekämpfung der mörderischen russischen Artillerie: „Wir wissen, dass diese Waffen uns erlauben können, die schon seit über hundert Tagen besetzten Gebiete zu befreien“, erklärt der Botschafter – Gebiete, in denen bis heute gemordet, vergewaltigt und deportiert wird.
Schlauestes Ausweichmanöver
Stegner sucht sein Heil in einem Stellungswechsel: „Ich lerne jetzt ganz viele neue Militärexperten kennen, die über alle möglichen Waffensysteme reden können“, ätzt er. „Das kann ich nicht.“
Aber: „Wir reden auch über Menschenleben, und deswegen ist es völlig richtig, wenn es Telefonate gibt mit Herrn Putin, dass wir verhindern, dass es eine Hungerkatastrophe gibt!“ Auch über diese Punkte sei jetzt in Kiew geredet worden, und „einzelne dieser Punkte haben eine größere Bedeutung als einzelne Waffengattungen!“
Klarste Erkenntnisse
„Wenn Putin sagt, er ist eigentlich Peter der Große, dann macht er ja deutlich, dass er in der Ukraine nicht Halt machen wird!“, fürchtet die Talkmasterin.
„Eigentlich gehört er nach Den Haag vor das Kriegsverbrechertribunal!“, urteilt Stegner ohne Vertun.
Perfideste Strategie
Aus dem okkupierten Süden der Ukraine berichtet die „Stern“-Journalistin: „Dort bekommt jedes Kind, das geboren wird, automatisch die russische Staatsbürgerschaft. Sie telefonieren dort nur noch mit russischen Mobilfunkbetreibern. Putin schafft alle Voraussetzungen, diese Gebiet Russland anschließen zu können.“
„Kultur vernichten“, klagt Melnyk. „Schulen! Das alles wird…“ Mehr muss er gar nicht sagen.
Wichtigster Hoffnungsschimmer
„Wenn wir massiv helfen, ist der Krieg vielleicht schneller beendet“, glaubt Kiesewetter, „weil Russland durch die Sanktionen, aber auch durch den massiven militärischen Widerstand einlenkt.“
Und über die Ausbildung ukrainischer Soldaten an den modernsten Waffensystemen der Nato-Waffen sagt der Botschafter zum Schluss: „Wir lernen schnell. Auch per Youtube-Videos. Auch solche Erfahrungen hatten wir am Anfang des Krieges. Die Ausbildung an den Panzerhaubitzen ist bereits abgeschlossen.“
Zitat des Talks
„Der Besuch heute war ein Zeichen dafür, dass der Eiserne Vorhang zwischen Russland und Europa gefallen ist.“ Katja Gloger
Fazit
Haarsträubende Kehrtwendungen, sinnlose Debattengrabenkämpfe und hinhaltender Widerstand gegen die Vernunft, aber auch überzeugende Argumentattacken mit hochwirksamer Meinungsmunition: Das war eine Talkshow der Kategorie „Kriegsgewirr“.