„Anne Will: Sorge vor zweiter Infektionswelle – lockert Deutschland die Corona-Maßnahmen zu forsch?“ ARD, Sonntag, 26.April 2020, 21.45 Uhr.
Seit Jahren hat es in keine Talkshow von Beginn an so viel Zunder gegeben! Im Mittelpunkt: Armin Laschet, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Kandidat für den CDU-Vorsitz und möglicher Merkel-Nachfolger im Bundeskanzleramt. Er musste sich harter Attacken erwehren.
Denn nach acht Wochen sind die Grünen im Prime-Talk wieder dabei: Am Donnerstag vergangener Woche schoss Cem Özdemir bei Illner auf die Union, jetzt rang die nicht mehr unumstrittene Partei-Co-Chefin Annalena Baerbock um gebührende Beachtung. Die Gäste:
Laschet gibt beim Öffnen Gas, legt sich dabei sogar mit der Kanzlerin an.
Baerbock war in einem Blümchenkleid erschienen, verteilte aber keine Sträuße.
FDP-Chef Christian Lindner kritisierte, dass Bund und Länder erst am 6. Mai über nächste Schritte reden wollen.
Der Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach (SPD) zog heute seinen elften Corona-Talk durch – neuer Rekord!
Die SZ-Wissenschaftsredakteurin Christina Berndt hat Biochemie studiert.
Kopf gegen Bauch! Erstes Zoff-Duell: Laschet gegen Lauterbach
Der Ministerpräsident verteidigte seine Lockerungen: „Welche Schäden richten die Maßnahmen bei Kindern an, die seit sechs Wochen ihre Wohnungen nicht mehr verlassen haben?“ fragte er. Inzwischen gebe es genug Betten, Beatmungsgeräte und medizinisches Material.
Lauterbach sieht das ganz anders: „Sechzig Prozent der Erkrankten sterben trotz Beatmung!“ warnte er. „Die Überlebenden haben bleibende Schäden! Nach fünf Tagen steigt das Demenzrisiko!“
Deutlichster Dissens
„Ich hätte die Schulen noch nicht geöffnet!“ kritisierte der SPD-Politiker den CDU-Politiker wie in alten Vor-GroKo-Zeiten.
Laschet war ganz anderer Meinung. Abstände, Hygiene, alles topp: „Das ist gut gelaufen!“
„Das wissen Sie doch gar nicht!“ widersprach Lauterbach in schon etwas erhöhter Tonlage. „Wir wissen doch noch gar nicht, wie die Infektionszahlen sind!“
Zweites Duell: Lindner gegen Baerbock
„Unser Land ist jetzt in einer anderen Verfassung“, stellte der FDP-Chef fest. „Jetzt können wir eine andere Strategie wagen. Wir können mehr öffnen. Mir gefällt nicht, dass in Leverkusen Hotels geschlossen werden, weil es in Passau einen Ausbruch gibt!“
Der Grünen stößt sauer auf, dass in NRW auch Möbelhäuser aufmachen durften: „Das hat viele Menschen total verunsichert! Der eine möchte jetzt das Fußballspiel erlauben, der andere da Möbelhaus…“
Ungerechtester Vorwurf
Ihr gehe es vor allem um Alleinlebende, sagte Baerbock, um Kinder und Jugendliche, „die bisher überhaupt nicht auf dem Radar waren.“ Wie bitte?
Der FDP-Chef kriegte eins vors Schienbein: Er sei wohl für „Lockerung als Selbstzweck.“ Rumms!
„Nein! Unsinn“ wehrte sich Lindner.
„Lassen Sie mich ausreden!“ funkelte Baerbock ihn an.
„Dann aber richtig!“ murrte Lindner.
Erfreulichste Analyse
„Deutschland ist Weltspitze im Bekämpfen von Infektionsgeschehen“, stellte SZ-Berndt erfreut fest, aber: „Es ist traurig, zu sehen, wie wir das jetzt so leichtfertig verspielen!“
„Wir handeln alle in Unsicherheitsbedingungen“, erklärte Laschet geduldig. Der für Ostern so dramatisch prophezeite „Peak“ der Neuinfektionen sei jedenfalls ausgefallen, und jetzt würden in NRW-Kliniken „jeden Tag mehr Leute entlassen als neue reinkommen“.
Wichtigste Ankündigung
„Ich werde diese Woche die Ärzte ermutigen, auch wieder andere Operationen zu machen, die auch nötig sind“, fügte der Ministerpräsident deshalb hinzu.
Sein Vorwurf: „Wenn Virologen alle paar Tage ihre Meinung ändern, müssen wir in der Politik dagegenhalten!“
Drittes Duell: Laschet gegen Lauterbach
Der SPD-Politiker fühlte als Epidemiologe die Wissenschaft ungerecht behandelt. Laschets Vorwurf, die Virologen hätten die Politik verwirrt, stimme nicht: „Es sind im Prinzip andere Ausdrucksweisen des gleichen Ziels gewesen!“ Ach so.
Dann wurde es immer komplizierter, und auf die Zuschauer hagelten Fachbegriffe herab: Reproduktionszahl. Verdoppelungszeit. Orientierungsgröße. Exponentielles Wachstum. Uff!
Dramatischste Warnung
„Wir hatten das Glück, dass wir die furchtbaren Bilder aus Italien sehen mussten, zu einem Zeitpunkt, wo die Bevölkerung sofort reagiert hat“, erklärte Lauterbach.
„Aber es war auch von Anfang an klar: Wir müssen verhindern, dass eine zweite Welle kommt, möglicherweise im Herbst“, warnte der Gesundheitsexperte. „Denn dann ist die Welle in ganz Deutschland verteilt!“
Viertes Duell: Laschet gegen Will
Der Ministerpräsident wunderte sich darüber, dass die Abiturienten wieder in die Schule dürfen „und jetzt alle sagen: Ja, aber darauf sind wir gar nicht vorbereitet!“
„Und dazu hat Ihre Kultusministerin, die zufällig zu der Partei von Herrn Lindner gehört, nix zu sagen?“ fragte die Talkmasterin spitz.
„Nee, das kann sie leider nicht!“ antwortete Laschet prompt. „Weil das bei uns die Schulträger machen. Und das ist überall in Deutschland die Stadt!“ Tja – hätte man eigentlich wissen können.
Zoff Nr.5: Laschet gegen Baerbock
„So wie Sie einen Rettungsfonds auflegen, hätten Sie ja auch einen Topf auflegen können, wo Sie Desinfektionsmittel landesweit verteilen!“ patzte die Grüne-Chefin den Ministerpräsidenten an.
Doch Laschet bremste sie gleich aus: „Frau Gebauer, die Schulministerin, hat den Schulen gesagt: Wenn ihr das nicht schaffet, dann besorge ich die Desinfektionsmittel!“
Erstaunlichstes Exempel
„Dann hat sie Seife besorgt, hat sich vor das Ministerium gestellt und eine Hotline errichtet“, erzählte Lasche weiter. „Wenn eine Schule anruft, fährt ein Auto des Ministeriums hin und bringt es ihnen!“
Die Grüne guckte zweifelnd, und das ärgerte Laschet: „Es war so!“ sagt er. „Sie können die Bilder noch aufgoogeln!“
Unfairster Vorwurf
Will grinste höhnisch, und Baerbock wollte lieber weiter mosern: „Das haben Sie jetzt schön presserelevant dargestellt!“ spottete sie.
„Ich finde es furchtbar, wenn das so läuft!“ assistierte die Talkmasterin. „Es geht um Bildungsbiographien von Kindern!“
„Aber deswegen bewegt mich das doch!“ rief Laschet schon fast verzweifelt über so viel bornierten Unglauben.
„Aber Sie sind der Ministerpräsident eines Bundeslandes!“ ätzte Baerbock.
Jetzt wurde Laschet richtig sauer: „Das ist nicht Ihr Ernst! Sie wissen doch genau, dass die Kommunen zuständig sind!“ blaffte er.
Klar weiß Baerbock das, aber hier ging es um pure Parteipolitik. Damit ist Wills Talkshow wieder auf dem Niveau gelandet, auf dem sie vor Corona war.
Irrste Kritik-Kanonade
Zeit für die nächste Attacke. „Warum gibt man den Firmen, die jetzt Masken produzieren wollen, nicht Direktzuschüsse?“ fragte Baerbock vorwurfsvoll.
„Das haben wir gemacht!“ antwortete Lauterbach.
Doch das überhörte die Grüne. Lieber ließ sie jetzt ein Platzpatronen-Stakkato ab: „Da muss das Bundeswirtschaftsministerium … Unternehmen stellen nur um, wenn sie wissen, dass sie in den nächsten zwei Jahren…“
Peinlichste Blamage
„Sie machen es!“ informiert Laschet sie mitten in ihren Redeschwall über die Aktionen der Bundesregierung.
Lauterbach wollte die aufgeregte Kritikerin beruhigen: „Das wird mit Volldampf … Die Firmen sind persönlich von Altmaier angerufen worden!“
„Und von mir“, ergänzte Laschet.
Populistischstes Wortgefecht
Auch beim Thema Fußball ging es nicht ohne Fouls ab. Baerbock findet Versuche, Bundesligaspiele wieder zuzulassen, „zutiefst ungerecht, wo ein Kind noch nicht mal auf eine einsame Schaukel darf!“
Lauterbach wiederum missfällt, dass Fußballer in der Quarantänefrage anders behandelt würden als der Rest der Bevölkerung.
„Ach!“ seufzte da Laschet aus tiefstem Herzen.
Klarste Ansage
„Alle Bereiche, die ähnliche Standards erfüllen wie jetzt die Bundesliga, sollten ebenfalls geöffnet werden können“, schlug Lindner wacker vor.
Er denke darüber „anders als Frau Baerbock“, erklärte der Liberale weiter. „Deren Auffassung ist ja, wenn manche es können, sollen sie es trotzdem nicht dürfen, weil damit sonst eine Ungleichbehandlung verbunden wäre…“ Treffer!
„Es geht ja auch um unsere Ressourcen!“ mahnte Baerbock, doch Laschet sah da keine Interessenkonflikt: „Es ist keine Kita offen, wenn die Bundesliga spielt!“ Amen.
„Da soll mal einer sagen, man kann nicht streiten über Corona!“ freute sich Will zum Schluss.
Fazit: Zoff bis kurz vor Kontrollverlust, viel dreistes Anpatzen, hektisches Schwurbeln und rücksichtsloses Durcheinanderreden, dazu nervtötende Bandwurmfragen der überforderten Talkmasterin: Das war eine Talkshow der Kategorie „Corotastrophe“.