„Maybrit Illner: Merkels Russland-Dilemma – ratlos zwischen Putin und Trump?“ ZDF, Donnerstag, 10.September 2020, 22.15 Uhr.
Außenminister Heiko Maas (SPD) hat in der ZDF-Talkshow „Maybrit Illner“ am Donnerstag die Möglichkeit eines Baustopps für die umstrittene Ostsee-Pipeline „Nord Stream 2“ bekräftigt.
Wörtlich erklärte der Politiker: „Man kann nicht sagen, Sanktionen wirken nicht, und deshalb machen wir keine. Manchmal muss man auch Konsequenzen ziehen, weil man sagt: Wir wollen nicht in einer Welt ohne Regeln leben.“
Nord Stream 2, Nawalny, Lukaschenko: Seit es im Osten immer ungemütlicher wird, setzen viele wieder mehr auf Amerika. Auch die Kanzlerin? Illners Gäste
Der Bundesaußenminister rät: „Wir sollten einen Baustopp für ‚Nord Stream 2‘ nicht ausschließen!“
Schanna Borissowna Nemzowa, Tochter des 2015 ermordeten Oppositionspolitikers Boris Nemzow, ist überzeugt: „Der Kreml ist für die Ermordung Nawalnys verantwortlich!“
Ex-SED/PDS-Chef Gregor Gysi (Linke) will nach dem Mordversuch an Kreml-Kritiker Nawalny den Verdacht auf geheimnisvolle Unbekannte lenken.
Marina Weisband (Grüne), in Kiew geborene Diplom-Psychologin, sagt: „Es geht um Autokratie gegen Demokratie.“
Alexander Rahr, Historiker mit russischen Eltern, leitet Projekte beim „Deutsch-Russischen Forum“ und berät Gazprom. Alles klar?
Der US-Historiker Timothy Snyder sagt allen Ernstes: „Die Lage in Belarus ist eine Vorschau auf das, was die USA nach der Wahl im November erleben werden.“ Uff!
Linke, Grüne, Noch-Linkere und Dunkelrote: Auf dem politischen Kompass ist alles klar.
Diplomatischste Eröffnungsbilanz
Die Talkmasterin, passend zum Thema in Schockfarbe, spielte der Runde die klare Ansage Angela Merkels an die Adresse Moskaus vor und ging gleich in die Vollen: „Warum ist der Kanzlerin erst jetzt der Kragen geplatzt? War sie naiv?““
Der Außenminister kennt seine Aufgabe: Niedriger hängen. „Ich würde noch nicht mal sagen, dass ihr der Kragen geplatzt ist“, beschwichtigte er. „Sondern wir sind dabei, auf das, was wir sehen und festgestellt haben, eine angemessene Reaktion zu suchen.“
Gefährlichste Frage
Rahr versuchte gleich mal, die Richtung vorzugeben: „Die Russen sehen in den Deutschen ihre Lieblingsnation“, behauptete der Gazprom-Lobbyist. „Man vergisst nicht, dass Russland sehr viel getan hat für die Wiedervereinigung Deutschlands!“
Für die deutsche Teilung allerdings noch sehr viel mehr, aber jetzt ging es um etwas ganz anderes, und Rahr brachte es auch gleich auf den Punkt: „Beide Seiten müssen genau nachdenken, was wichtiger ist: Moral oder Vernunft?“
Echt jetzt? Maas gab die richtige Antwort: „Das eine schließt das andere nicht aus!“
Frechste Forderung
Gysi tat, was er gerne macht: Er forderte Fakten und streute selber Gerüchte. Beispiel: „Ich bin Anwalt, und deshalb bin ich immer erst für Aufklärung und dann erst für Verurteilung“, sagte er.
Und dann: „Wenn es schon Spekulationen gibt, dann kann man auch sagen: Ein Gegner der Pipeline hat sich gedacht, wenn er das macht, dann unterstellen alle, dass es Putin war, und dann wird die Pipeline gefährdet sein.“ Hm – so tickte wohl eher die Stasi!
Durchsichtigste Taktik
Gysis „Angebot“: „Ich ziehe meine Spekulation sofort zurück, wenn die anderen ihre auch zurückziehen!“
Danach unterbrach der Ex-SED-Chef andere immer wieder mit Versuchen, sie auszubremsen oder lächerlich zu machen. Typische Redemuster: „Das ist nicht logisch!“ – „Ich will ja nur mal fragen!“ – „Eins darf man nicht vergessen!“ Dazu immer wieder faule Gleichsetzungen: „Auch die USA! Auch die USA!“
Wichtigste Feststellung
Die Grüne-Politikerin funkte wacker dazwischen: „So eine Talkshow ist kein Rahmen, in dem wir bestimmen werden, wer Nawalny vergiftet hat“, stellte sie klar, „sondern ein Rahmen, in dem wir über Politik sprechen.“
Und zwar so: „Wenn wir für Nawalny keine Beweise haben, dann haben wir Beweise für die Annexion der Krim, für syrische Kriegsverbrechen, für andere Morde durch Putin…“
Windigstes Angebot
Gazprom-Rahr fand, der Außenminister sei „als Chefdiplomat Deutschlands natürlich prädestiniert, jetzt mit Lawrow, mit der russischen Seite zu reden“.
Allerdings wollte der Lobbyist nur „reden, aber nicht über Nawalny selbst!“ Denn: „Deutsche Kriminalisten werden nicht nach Russland gelassen. So eng sind unsere Beziehungen nicht. Und so viel Vertrauen gibt’s nicht.“
Peinlichster Erklärungsversuch
Dann zündete Rahr fleißig Nebelkerzen: „Es kann sein, dass Geheimdienste außer Kontrolle geraten sind“, vermutete er, aber: „Ich tippe eher auf kriminelle Strukturen. Herr Nawalny lebt gefährlich. Er hat viele Nachforschungen betrieben…“
„Also wirklich!“ murrte Maas genervt. „Hier werden Spekulationen in die Welt gesetzt, die an Absurdität nicht zu überbieten sind!“
Gelungenster Konter
Gysi wollte den Spieß umdrehen: „Es ist bekannt, dass viele Geheimdienste das (Gift) haben. Sicher auch der russische. Und damit liefert Putin, wenn er das war, das höchste Beweismittel aus, damit wir das alles gegen ihn feststellen? Meine Erfahrung als Anwalt…“
Das sollte jetzt möglichst absurd klingen, doch die Grüne entlarvte den Trick sofort: „Jetzt eben hat Putin gewonnen“, erklärte sie nüchtern. Denn: „Es gibt eine alte rhetorische Kiste, noch aus dem KGB-Handbuch, und die heißt: Lügen über das Offensichtliche. Wir sitzen jetzt hier und spielen Krimi-Dinner. Aber das ist nicht der politische Klarblick, den wir brauchen!“
Bewegendstes Interview
Aus Prag wurde Regimekritikerin Nemzowa zugeschaltet. „Man hat viele Versionen aufgestellt, wer meinen Vater getötet hat“, berichtete die Tochter des wichtigsten Putin-Opfers. „Die Täter sind im Gefängnis, aber die Auftraggeber sind bis heute nicht gefunden!“
Und: „Das Untersuchungskomitee kann nach wie vor kein Motiv feststellen“, klagte die Journalistin weiter, „obwohl die ganze Welt meint, dass es sich um ein politisches Motiv gehandelt hat. So wird in Russland ermittelt! Und es wird auch keine formale Ermittlung im Fall Nawalny geben.“
Dramatischster Bericht
„Das waren die russischen Dienste“, sagte Nemzova klipp und klar. „Es war ein Mordanschlag. Man wollte ihn umbringen. Aber Gottseidank saß nicht Wladimir Putin im Cockpit. Sondern wunderbare Piloten, die das Flugzeug gelandet haben, im Omsk.“
Ihre Meinung: „Darum hat er überlebt. Und die wunderbaren Ärzte! Nicht Beamte aus dem Gesundheitsministerium, sondern Ärzte, die sofort begriffen haben, dass man Alexej Nawalny vergiftet hatte. Und ihm Atropin injiziert haben. Deshalb konnte er überleben.“
Düsterste Prognose
„Leider gibt e kein ZDF in Russland“, erklärte Schanna Nemzowa. „Alle Fernsehkanäle stehen unter der Kontrolle des Kreml, und jetzt versucht man natürlich, das Thema einfach totzureden. Irgendwelche Vermutungen anzustellen, um von der Hauptsache abzulenken.“
Folgen der permanenten Lügerei und Einschüchterung seien Angst und Apathie: „Die Autokratie zieht die Daumenschrauben immer weiter an!“
Groteskeste Selbstbeweihräucherung
Danach erlitt Gysi einen schweren Anfall von Altmännereitelkeit: „Es gibt immer Strukturen, die halten Jahrzehnte. Und plötzlich ist es zu Ende“, habe er dem belorussischen Botschafter in Berlin soeben erklärt. „Und wenn man dann versucht, das mit Gewalt zu halten, erzeugt man erstes Gegengewalt und begeht immer mehr Unrecht.“
Sein Vorschlag an den Lukaschenko-Repräsentanten: „Sie brauchen runde Tische! Sie müssen Kompromisse finden!“
Die Runde staunte nicht schlecht über so viel Naivität. „Was sagte der Botschafter denn?“ wollte Illner wissen.
Gefährlichster Prahlhans
Gysi lächelte geschmeichelt: „Er wirkte nicht so, also ob er das ablehnte“, antwortete er und hob bedeutsam den Zeigefinger: „Mir ist sehr wichtig, dass er das alles aufschreibt und hinschickt!“
„Hoffen wir, dass er noch lange Botschafter ist, nachdem Sie das hier jetzt gesagt haben“, kommentiert Maas trocken und empfiehlt „vielleicht etwas Vorsicht an der Stelle!“
Gysi stutzte kurz und legte dem Minister dann verschwörerisch die Hand auf den Arm: „Ich hoffe, dass Lukaschenko die Sendung nicht verfolgt.“ Oje! Wie gut, dass diese alte Plaudertasche nie Regierungsverantwortung trug!
Frage des Abends
„Glauben Sie, dass der Baustopp kommt?“ erkundigte sich die Talkmasterin beim Minister.
„Wir werden alle Optionen auf den Tisch legen und das zu gegebener Zeit entscheiden“, antwortete Maas. „Auch Russland kann dazu beitragen, dass eine solche Entscheidung (Baustopp) nicht getroffen wird, indem sie sich an der Aufklärung beteiligen!“
Fazit: Wichtiges Thema, aber in einer leider völlig ungeeigneten Versuchsanordnung: Statt echter Argumente nur Verbalattrappen, dazu wirklich üble Propagandalügen: So talkt man die Sofas leer. Das war eine Show der Kategorie „Nebelwurfanlage“.