„Anne Will: Wahlen in unsicheren Zeiten – Bekommt die Ampel die Quittung für ihre Krisenpolitik?“ ARD, Sonntag, 9.Oktober 2022, 22 Uhr.
Nach der Wahl in Niedersachsen bleibt die Landespolitik erst mal Nebensache, denn es knirscht, knackt und kracht im Gebälk der Koalition in Berlin. Anne Wills Gäste:
Lars Klingbeil (44, SPD). Der Parteichef feiert einen Sieg, aber nicht für seinen Kanzler: Scholz hat es jetzt noch deutlich schwerer, die FDP bei der Stange zu halten.
Ricarda Lang (28, Grüne). Die Parteichefin jubelt, aber nicht ganz so doll wie erhofft, denn Robert Habecks Gas-Chaotik drückte die Prozente.
Jens Spahn (42, CDU). Der Fraktionsvize steckt im Talk-Tief: Seine Union hat die Wahl und gleich auch noch ihren Landeschef verloren.
Julia Reuschenbach (34). Die Politologin rät der Ampel: „Jetzt muss die Krisenkommunikation besser werden!“
Robin Alexander (47). Der Vizechef der WELT bringt es auf den Punkt: „Gewonnen ist gewonnen!“
Sieger, Verlierer, Duellanten, Sekundanten: Nach der Wahl ist bekanntlich vor der Wahl!
Differenzierteste Lagebilder
Die SPD habe auf der Zielgeraden dank ihres „Amtsinhaberbonus“ den Vorsprung ausgebaut, analysiert Politologin Reuschenbach. Bei den Grünen und der AfD sehe sie „bundespolitische Einflüsse“. Unterm Strich also „stark bundespolitische Themen mit landespolitischen Anteilen“.
„Im August standen die Grünen noch bei 20 Prozent“, erinnert WELT-Journalist Alexander. Jetzt ist die SPD wieder doppelt so groß, also ist wieder die alte Juniorrolle da.“ Der Frust über die Ampel wiederum sei „nicht zur CDU gegangen, sondern zur AfD.“
Feinsinnigste Selbstkritik
SPD-Chef Klingbeil verteidigt feurig den Kanzler: „Es gab noch nie eine Bundesregierung, die so viele Krisen am Anfang zu bewältigen hatte“, rühmt der Niedersachse. „Eine wahnsinnige Verantwortung!“
Eine ARD-Grafik zeigt große Unzufriedenheit mit der Ampel. Wieso konnte die CDU diesen Elfmeter nicht reinmachen? wundert sich Will.
„Es ist uns nicht gelungen, den Protest in Stimmen für die Union umzumünzen“, gesteht Fraktionsvize Spahn. Denn nach der verlorenen Bundestagwahl stehe die Union „noch nicht wieder in der Kompetenzvermutung.“ Uff!
Meteorologischste Erklärung
Für Grüne-Chefin Lang hat die Talkmasterin einen Einspieler über Robert Habeck vorbereitet: Nur noch 42 Prozent der Niedersachsen finden, dass der Wirtschaftsminister seinem Amt gewachsen sei.
Langs Deutung: „Wenn man im Sturm steht und Verantwortung übernimmt, dann wird man dabei auch mal nass.“
Berechtigtste Warnung
Persönliche Beobachtung der Grüne-Chefin: Bei einem Wahlkampf-Besuch der Salzgitter AG, die Röhren für die Flüssiggas-Terminals bauen, habe sie sagen hören: „Das kennen wir sonst überhaupt nicht, in so einer Geschwindigkeit zu arbeiten.“ Dieses Lob möchte sie jetzt auf Habecks Konto einzahlen.
WELT-Alexander lenkt die Debatte auf die Wahlschlappe der Liberalen. „Die FDP hat augenscheinlich die Analyse gemacht: Wir kommen in dieser Koalition nicht genug vor“, vermutet der Journalist. „Da ist die Versuchung nahe, Profile gegen die eigenen Koalitionspartner aufzubauen.“
Klarste Absage
„Ich weiß, dass so ein Ergebnis zu Nachdenkprozessen führt“, räumt Klingbeil ein. „Man muss nicht drum herumreden, dass das für die FDP, wenn sie nicht in den Landtag kommt, ein bitteres Ergebnis ist.“ Aber, so der SPD-Chef im nächsten Satz: „Dass wir jetzt den Weg der Erneuerbaren gehen, ist ja der richtige Weg…“
Alexander muss lachen, und Will fängt Klingbeil wieder ein: Nix Erneuerbare, der FDP gehe es um die Kernkraft!
Da hebt der SPD-Chef beschwörend die Hände: „Dass wir gerade eine schwierige Entscheidung zu treffen haben, was die drei Atomkraftwerke angeht, dass Robert Habeck dazu einen Vorschlag gemacht hat, ist eine pragmatische Lösung“, rühmt er. „Aber es wird mit der SPD keinen Wiedereinstieg in die Atomenergie geben.“ Rumms!
Gretchenfrage des Abends
Prompt legt die Talkmasterin den Finger in die Wunde:
„Christian Lindner sagt gar klar: Er wird nicht aufhören, für den Weiterbetrieb aller drei Akw zu kämpfen“, stellt sie fest, „und will dazu vielleicht zwei stillgelegte reaktivieren.“
„Erst mal muss man ja feststellen, dass die zwei Parteien, die ganz stark mit dem Wiedereinstieg Wahlkampf gemacht haben, die CDU und die FDP, damit nicht gewonnen haben“, hält Lang dagegen.
Will bleibt dran: „Bundesweit, das wissen Sie, gibt es eine Mehrheit dafür“, erinnert sie.
Doch die Grüne-Chefin rasselt weiter auf bequemere Bahnen: Gaspreisdeckel, Unternehmenshilfen, Ausbau der erneuerbaren Energien…
Heißeste Kopfwäsche
Dann springt das Zoff-o-Meter an. „Ich werde ganz unruhig, weil ich jetzt zum dritten oder vierten Mal aus der Regierung höre: Wir müssen jetzt bald entscheiden“, meldet sich Spahn. „Das Hauptproblem, das auch die Wut so stark macht, ist, dass seit Monaten nicht entschieden wird!“
Sein massiver Vorwurf: „Jeder weiß, wir müssen alles, was in diesem Land Strom produzieren kann, nutzen. Jeder weiß, dass die Heizperiode beginnt. Ich bin verwundert, dass Sie hier so ruhig sitzen und sagen: Wir entscheiden bald. Das hätte schon vor Monaten entschieden werden müssen. Konzepte gibt es schon seit März!“
Alarmierendste Analyse
Dann zieht der CDU-Mann voll durch: „In einer der größten Krisen unseres Landes streiten der Wirtschaftsminister und der Finanzminister jeden Tag!“, wettert er. „Kernenergie, Schuldenbremse, Steuern hoch oder runter…“
„Ich finde es unredlich, lieber Jens Spahn, zu sagen, es ist nichts entschieden worden“, holzt der SPD-Chef zurück und zählt auf: Bundeswehr, Entlastungspakete, Mindestlohn. Zum Gaspreis werde die Expertenkommission morgen Vorschläge machen. Klingbeils Gegenvorwurf: Die Union auf Krawallkurs! Überall dagegen! Wahlkampf auf dem Rücken von Flüchtlingen!
Schmerzhaftester Einschlag
„Alle sechzehn Ministerpräsidenten, auch Herr Weil, haben gesagt: Diese Bundesregierung redet nicht vernünftig mit uns“, kontert Spahn. „Ich empfehle nicht, jetzt selbstzufrieden zu sein, angesichts der Stimmung, die sich auch im Wahlergebnis ausdrückt!“
„Sie haben gesagt, das soll eine Volksabstimmung werden über die Atomkraft“, stoppt ihn die Talkmasterin. „Was ist das denn jetzt für ein Ergebnis?“
Treffer! „Offenkundig war Kernenergie jetzt nicht das auschlaggebende Thema“, gibt Spahn notgedrungen zu. „Da müssen wir uns selbstkritisch fragen, warum wir das nicht stärker zu DEM Thema gemacht haben…“ Auweia!
Ernüchterndster Bericht
„Stellt sich die CDU unter Friedrich Merz falsch auf?“, fragt Will prompt.
„Dazu müsste man erst mal wissen, wie sie sich aufstellt“, lästert Alexander. „Das gibt wirklich Rätsel auf. Beim (CDU-)Parteitag wurden markige Reden gehalten, bis hin zur Frisur von Toni Hofreiter, und die (Grünen) würden Broccoli essen, und ich dachte, jetzt geht’s aber los…“
„Aber dann“, so der WELT-Mann weiter, „fingen die programmatischen Debatten an, und die programmatische Debatte war die Einführung einer Frauenquote! Programmatisch drehte man nach links, rhetorisch nach rechts.“
Strittigster Punkt
Der nächste ARD-Einspieler zitiert das Merz-Misswort „Sozialtouristen“ für ukrainische Kriegsflüchtlinge. Obwohl sich der CDU-Chef sofort entschuldigte, wird auch jetzt wieder tüchtig auf ihn eingedroschen.
Spahn versucht zu retten, was zu retten ist: „Wir wollen Zuwanderung in den Arbeitsmarkt“, macht er deutlich, „wir wollen nicht Zuwanderung in die Sozialsysteme.“
Wichtigste Forderung
Und, so der CDU-Politiker weiter: „Natürlich ist jede Erhöhung von Sozialleistungen, die ich ohne Gegenleistung erhalte, auch ein Anreiz dafür, nach Deutschland zu gehen. Ich finde es richtig und wichtig, dass wir darüber auch eine politische Debatte haben. Wenn wir sie nicht führen, überlassen wir dieses Thema den Vereinfachern!“
Alexander steuert eine nicht allen willkommene Erinnerung bei: Die SPD-Arbeitsministerin Andrea Nahles habe mal versucht, die Leistungen für Flüchtlinge etwas abzusenken. Alexanders Rat: „Das muss in der Debatte bleiben, denn sonst kann man nicht mehr seriös über Migrationspolitik sprechen.“
Plumpstes Bayern-Bashing
Dann nimmt Will die Grüne aufs Korn. „Sie wünschten sich, haben Sie gesagt, bei den Absprachen zwischen Bund und Ländern mehr Tempo aus dem Kanzleramt. Was sagen Sie uns damit? Dass es der Kanzler ist, der die Bewältigung der Krise verschleppt?“
„Nein, Quatsch!“, versichert Lang eilig und rettet sich über ihren Lieblings-Blitzableiter: „Wenn ich mir Markus Söder anschaue, geht es eher um persönliche Profilierung“, ätzt sie. Halleluja!
Zitat des Abends
„Was durchaus auch mein Konzept wäre, ist ein gedeckelter Gaspreisdeckel.“ Ricarda Lang
Fazit
Das war eine Talk-Show der Kategorie „Stromfresser“: Hoher Energieverbrauch, geringe Wirkung.