„Anne Will: Wie wollen wir leben?“ ARD, Sonntag, 14.November 2020, 21.45 Uhr.
Der CDU-Kandidat Friedrich Merz hat in der ARD-Talkshow „Anne Will“ am Sonntag massive staatliche Unterstützung für Firmengründer verlangt.
Wörtlich sagte der Wirtschaftspolitiker: „Wenn wir über Steuererleichterungen reden, dann müssen wir sie für die jungen Unternehmen, für die Startups machen und denen sagen: Wenn ihr zehn Jahre lang in Deutschland bleibt, dann zahlt ihr zehn Jahre lang keine Steuern!“
Denn, so der Wirtschaftsminister: „Das hat volkswirtschaftlich den x-fachen Nutzen gegenüber den möglichen Steuerausfällen!“
Es war der vernünftigste Vorschlag in einer Talkshow, die sonst vor allem als wüstes Hauen und Stechen über den Bildschirm ging. Denn Talkmasterin Anne Will und die anderen Gäste verfolgten vor allem das Ziel, den möglichen Unionskanzlerkandidaten als miesen Kapitalistenknecht auf die Anklagebank zu setzen.
Corona kostet Todesopfer, killt Jobs, legt Städte und Länder lahm. Will startete mit ihrer Sendung eine ARD-Themenwoche zu den Fragen: Wie wollen wir leben? Haben wir die richtigen Rezepte? Und wer soll uns in die Zukunft führen? Die Gäste:
Scholz, Kanzlerkandidat der klassischen Arbeiterpartei, muss jetzt versuchen, möglichst viele enttäuschte Wähler zurückzuerobern.
Annalena Baerbock (Grüne). Die Noch-Nicht-Kanzlerkandidatin muss erst noch einen gefährlichen Wettbewerber abhängen: Robert Habeck.
Merz hat schon beim Kampf um den Parteivorsitz zwei starke Konkurrenten.
Drei politische Schwergewichte im Talk-Ring. Und schon gleich zum Auftakt kam die erste Frontalattacke, denn Talkmasterin Will zeigte, wohin die Reise gehen sollte: „Nun wissen wir alle, dass Sie lange beim weltgrößten Finanzdienstleister BlackRock gearbeitet haben…“ begann sie.
„Das überrascht mich jetzt ein bisschen, dass Sie mich heute Abend noch mal damit konfrontieren“, wunderte sich der Wirtschaftspolitiker. „Ich bin da seit einem halben Jahr raus…“
Aber nicht in dieser Runde! Damit war der Tonn gesetzt und änderte sich auch nicht mehr.
Parteiprogrammatischstes Statement
Baerbock möchte kein „Wachstum, koste es, was es wolle, und am Ende diesen Planeten“. Erwartbar forderte sie vor allem Antworten „auf die Frage von Nachhaltigkeit und Klimaschutz“.
„Es darf nicht ein bisschen weniger Kapitalismus, ein bisschen weniger Globalisierung, ein bisschen weniger Finanzmärkte“, erklärte die Grüne, „sondern es muss sich wirklich radikal was ändern!“
Energischster Stopper
Der Finanzminister hatte die Staatseinkünfte im Blick: „Es kann nicht dabei bleiben, dass Steuern da gezahlt werden, wo sie am geringsten sind“, schimpfte er. „Steuervermeidungsstrategien müssen bekämpft werden!“
„Das sagen Sie aber auch schon ’ne Sekunde, Herr Scholz“, spottete die Talkmasterin.
„Da haben wir schon viele hundert Abkommen abgeschlossen“, verteidigte sich der Minister. „Es muss aber weitergehen.“
Löblichste Vorsätze
„Wir verhandeln gerade über ein Konzept für Mindestbesteuerung, das wir weltweit durchsetzen wollen“, fügte Scholz hinzu, und zwar schon „im nächsten Jahr, im Sommer.“
Und: „Das gleiche gilt für die Besteuerung der digitalen Geschäftsmodelle großer Plattformen“, kündigte Scholz in Richtung Apple, Google & Co. an. „Das muss neu verabredet werden. Es kommt darauf an, jetzt Taten folgen zu lassen!“
Foulste Grätsche
Ein Einspieler offenbarte einen typischen ARD-Trick.
Merz wurde mit der Bemerkung zitiert: „Den Satz des Bundesfinanzministers, wir können uns das alles leisten, mache ich mir ausdrücklich nicht zu eigen“.
Ein Sprecher fügte hinzu: „Merz hält die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes für falsch.“ Zum Beweis sollte ein Zitat aus einem Interview mit BILD-TV dienen, in dem Merz gesagt hatte: „Wir müssen ein bisschen aufpassen, dass wir uns nicht alle daran gewöhnen, dass wir ohne Arbeit leben können. Wir müssen zurück an die Arbeit.“
Wichtigste Richtigstellung
Merz bestand sofort auf einer Korrektur: Er habe nicht dem jetzt hier gezeigten, sondern einem früheren Scholz-Zitat widersprochen. Das aber lautete: „Wir können uns alles leisten.“ Merz hat also nichts gegen „das alles“ im Sinne von Kurzarbeitergeld, sondern nur etwas gegen „alles“ im Sinne von Gießkanne.
In diesem Stil ging es dann die ganze Zeit weiter: Unseriöse Vorwürfe, Wortverdrehungen, Propaganda-Tricks bis weit jenseits der Schamgrenze.
Stolzeste Bilanz
Scholz rühmte ausgiebig seine Arbeit: „Erst ein neues Stabilisierungsprogramm, das größte in Europa, und das erste! Zweitens ein großes Konjunkturprogramm, das erste in Europa und das größte!“ berichtete er selbstzufrieden.
O.k., Deutschland ist ja auch die mit Abstand größte Volkswirtschaft. Der Finanzminister buchte aber noch mehr auf sein Konto: „Wir haben durch die Formulierung eines europäischen Wiederaufbauprogramms dazu beigetragen, dass die Zahlen sich gedreht haben“, lobte er. „Ich glaube, das ist ein politischer Erfolg!“
Aggressivste Strohmann-Argumente
Baerbock tat, was sie gerne macht: Sie lederte volle Kanne gegen Behauptungen los, die gar niemand aufgestellt hatte.
„Anders als Herr Merz, der gesagt hat, die Menschen sollen endlich wieder arbeiten: Die Menschen wollen arbeiten!“ wetterte sie.
Unfairste Attacke
„Wie geht’s denn der Pflegekraft, die rund um die Uhr arbeitet, um dieses Land am Laufen zu halten?“ polterte die Grüne weiter. „Denen zu sagen, sie sollen wieder arbeiten, halte ich für absurd!“
„Hab‘ ich doch gar nicht gesagt“ wehrte sich Merz, doch Baerbock übertönte den Widerspruch durch rasches Weiterreden über fossile Brennstoffe, Nachhaltigkeit und die Lufthansa. Uff!
Härtester Konter
Merz möchte, dass die Schuldenbremse bleibt, denn: „Sie ist nicht für gute Zeiten gemacht, sondern für schlechte Zeiten, um den Bundestag ein Stück weit zu disziplinieren, mit dem Geld vorsichtig und sparsam umzugehen!“
Denn, so der CDU-Politiker zu der Grünen: „Wenn die Pandemie vorbei ist, müssen wir wieder zu soliden Haushalten zurückkehren. Das, was Sie vorhaben, ist, Geld auszugeben, das die, denen es angeblich zugutekommen soll, morgen mit ihren Steuern bezahlen sollen.“ Rumms!
Würzigste Selbstbeweihräucherung
„Ich würde ein bisschen gerne aushelfen mit Fakten“, mischte sich Scholz ein. Die anderen waren sichtlich amüsiert. „Immer gut!“ grinste Will.
Dem SPD-Kandidaten ging es aber nur darum, sich noch mal zu feiern: „Ich habe in den Jahren, in denen ich Finanzminister bin, die Investitionsquote dramatisch nach oben gehoben!“ rühmte er sich.
Unbekümmertste Parteienwerbung
Wichtigster Vorsatz des Finanzministers: „Wir müssen für Gerechtigkeit sorgen, indem wir eine Entlastung im mittleren und unteren Einkommensbereich durchsetzen. Einen ersten Schritt haben wir jetzt im SPD-Wahlprogramm gerade umgesetzt!“
„Das klang jetzt schon eine Weile so, dass Sie das Selbstlob entdecken“, höhnte Will.
Prominentester Gewährsmann
Merz kicherte, und prompt holte Scholz seine Bazooka raus, geladen diesmal aber nicht mit Steuermilliarden, sondern mit Propaganda. Als Zusatzmunition sollte ihm ein Testimonial dienen, das kaum zu toppen ist: „Ich fühle mich da ein bisschen im Einklang mit dem künftigen Präsidenten“, sagt er über seine geplanten Steuerentlastungen. „Mit dem gewählten Präsidenten der USA, Joe Biden, der das ja zum Wahlkampfthema gemacht hat.“ Wumms!
Und, so der Minister weiter: „Ich glaube, dass so eine Krise falsch gemanagt wird, wenn man nicht ständig auch weiterentwickelt.“
Dann ging der Zoff so richtig los
Baernbock wollte auch mal wieder drankomen. „Das geht jetzt alles durcheinander!“ unterbrach sie den Wirtschaftspolitiker.
„Da geht gar nichts durcheinander“, widersprach Merz. „Sie wollen nur nicht gerne hören, dass man auch mal Prioritäten setzen muss!“
Cleverste Strategie
Dafür rächte sich die Grüne mit einer Grobheit: „Sie müssen jetzt mal ein bisschen zuhören!“ ätzt sie.
Dann haute Baerbock neue Strohmann-Argumente raus: „Einfach zu sagen, alles gut, Friede Freude Eierkuchen, da fragen Sie mal jede Krankenschwester, jede Lehrerin, die derzeit keinen Digitalanschluss hat…“
Hm – hatte Merz etwas in dieser Richtung gesagt? Nein, aber der Eindruck blieb.
Wichtigste Klarstellung
Will zeigte noch einmal das Merz-Zitat zum Kurzarbeitergeld: „Sie haben gesagt, Sie sähen die Gefahr, dass sich die Menschen an ein Leben ohne Arbeit gewöhnen“, warf sie dem CDU-Politiker vor.
Merz wurde nun richtig sauer: „Das blenden Sie jetzt schon zum zweiten Mal ein“, beschwerte er sich. „Ohne den Kontext, in dem ich das gesagt habe!“
Er habe damit auf das Beispiel eines Unternehmens hingewiesen, wo 500 Mitarbeiter in die Kurzarbeit gegangen seien, aufgestockt auf 95 Prozent, erläuterte der Wirtschaftspolitiker. Seine Kritik: „Die dürfen 450-Euro-Nebejobs machen und haben jetzt mehr Geld als bei voller Beschäftigung!“
Gekonntestes Nachtreten
Frühwahlkämpfer Scholz wollte Wills Steilvorlage trotzdem nutzen: „Das haben Sie gesagt!“ patzt er Merz an, „und ich finde, das ist auch gar nicht misszuverstehen gewesen!“
Dann drehte der SPD-Kandidat das Moralgebläse bis zum Anschlag auf: „Wenn man so einen Satz spricht“, donnert er den CDU-Kandidaten an, „dann fühlen sich Millionen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in diesem Lande, die jeden Tag gern zur Arbeit gingen und jetzt Kurzarbeit machen müssen, schwer, schwer verletzt!“
Schlimmster Vorwurf
Auch noch einen anderen Punkt wollte Scholz Merz ankreiden: „Ich kann mit dem Argument, dass jetzt, während gleichzeitig Tausende Menschen gekündigt werden, weil Unternehmen restrukturieren, wir durch solche Regelungen wie die Kurzarbeit die Neuaufstellung der deutschen Wirtschaft behindern, auch nichts anfangen!“ schimpfte er.
Das klang ziemlich kompliziert. Dafür fiel das Dementi umso klarer aus: „Von mir kommt dieses Argument nicht“, konterte Merz.
Bemühtestes Vortrag
Scholz ließ trotzdem nicht locker: „Sie haben aber eben gesagt ‚durch diese Situation, wo Fachkräftemangel herrscht…‘“, zitierte er Merz. „Das soll uns doch nur sagen: Eigentlich sollen die Leute entlassen werden und sich einen neuen Arbeitsplatz suchen, da werden sie dringend gebraucht.“
Ob das jetzt überhaupt noch jemand kapierte? „Ach Herr Scholz, warum machen Sie sowas“, klagte Merz. „Jetzt versuchen Sie wieder umzuinterpretieren! Ich habe schon fünf Mal gesagt, wir können uns alle glücklich schützen, das wir so ein Instrument wie die Kurzarbeit haben!“
Mutigste Selbstbeschreibung
Zum Schluss vollführte Will einen ungewöhnlich absurden Themenwechsel: „Achtung, heißes Eisen!“ las sie von ihrem Spickzettel ab. „Wie spricht man gendergerecht? Wie spricht man so, dass alle gemeint sind?“
Ihr erster Adressat war der Finanzminister: „Herr Scholz, Sie bezeichnen sich selbst als Feministen“, sagte die Talkmasterin.
Die Runde grinste, doch der Minister blieb knochenernst: „Gesetze müssen nicht immer nur in männlicher Sprache geschrieben werden“, meinte er. „Man kann darüber ganz viele lustige Beispiele machen, aber ehrlicherweise ist das überhaupt nicht lustig.“
Letzte Spitze
Sein Leid: Er müsse, so der Minister, „mit jemandem zusammen regieren, der nicht mal versteht, was damit gewollt ist.“
„Sie glauben, die CDU und die CSU verstehen nicht, was Sie meinen?“ staunt die Talkmasterin.
„Ja“, sagt Scholz. Und Amen!
Fazit: Mühevolle Faktenintubation gegen Propagandaphrasen aus dem Palast der Textbausteine, alle gingen tief ins Eingemachte: Das war ein Talk der Kategorie „Hauen und Stechen“.