„Maischberger“. ARD, Dienstag, 11.Oktober 2022, 22.50 Uhr.
Es gibt Eichenspinner, Buchenspinner und Putinspinner. Letztere befallen vor allem die extremen Ränder im deutschen Polit-Biotop. CDU-Chef Friedrich Merz ist immun, er fährt eisern Kurs Mitte. Sandra Maischberger fragt nach Flüchtlingen, Energiehilfen und Wahlergebnissen. Die Gäste.
Friedrich Merz (66, CDU). Der Oppositionschef twittert nach der Niedersachsenschlappe: „Im Bund liegt die CDU weiterhin mit großem Abstand auf Platz 1, es gibt da also keinen Grund zur Klage.“
Irina Scherbakowa (73). Die russische Historikerin kämpft aus dem Exil für ihre nobelpreisgekrönte Menschenrechtsorganisation „Memorial“.
Claudia Major (55). Die Sicherheitsexpertin warnt schon lange und immer wieder: „Russland will den Westen einschüchtern!“
Helene Bubrowski (41). Die Journalistin (FAZ) ärgerte sich im März über Merz, weil der CDU-Chef juxte, dass Stürme Frauennamen trügen. Bleibt der See heute ruhig?
Christoph Schwennicke (56). Der Journalist („Corint Media“) prophezeite im Juli: „Der November könnte Putin zum Verhängnis werden!“
Anja Kohl (52). Die Wirtschaftsjournalistin (ARD) warnte Ende Mai in „Hart aber fair“: „Wir gehen in eine Dekade der Inflation!“ Heißt: Zehn magere Jahre!
Politik, Wissenschaft, Medien. Gibt’s heute kumpelige Fist-Bumps oder krachende Kinnhaken? Das Zoff-o-Meter zählt die Wirkungstreffer.
Strittigste Ouvertüre
ARD-Expertin Kohl belässt es bei milden Vorwürfen: „Es kommt ein bisschen zu spät!“, kommentiert sie das Konzept der Energiekommission. „Das Positive ist: Es ist zielgenau.“ Die Gaspreisbremse im März werde funktionieren, „aber dann ist leider der Winter schon weiterstgehend rum.“
Schwennicke ist das viel zu sanft: „Frau Kohl war sehr gnädig mit dieser Formulierung ‚ein bisschen spät‘“, beginnt er. Weiter kommt er nicht, denn die ARD-Frau erhebt sofort Einspruch: „Ich habe nicht gesagt ‚ein bisschen‘, widerspricht sie, „ich habe gesagt ‚zu spät‘. Uff! Was ist da mit dem Kurzzeitgedächtnis los?
Fetzigste Kritik
FAZ-Journalistin Bubrowski zieht ganz anders vom Leder: „Total kompliziert!“, wettert sie. „Riesiger bürokratischer Aufwand! Keine Lösung! Mehr Fragen als Antworten!“
„Viel zu spät!“, assistiert Kollege Schwennicke. „Die Regierung hat sehr viel Zeit verdaddelt. Insbesondere Wirtschaftsminister Robert Habeck hat sich zu sehr in die Gasumlage verrannt.“ Bis die Gaspreisbremse greife, würden schon „die Primeln blühen“.
Ernüchterndste Erklärung
„Ich hätte nicht gedacht, dass die ideologischen Fliehkräfte immer noch so groß sind“, wundert sich der Journalist. FDP und Grüne „sind sich nicht grün“, und „ein Kanzler und seine Partei sind dazu da, zu führen.“
Schwennickes Kanzler-Vergleich: „Mein Eindruck ist, dass Olaf Scholz bei Frau Merkel in die Lehre gegangen ist und gerne die Dinge laufen lässt, die sich dann schon irgendwie schütteln.“
„Es gab einen Helmut Kohl, der das Aussitzen auch schon praktiziert hat“, fällt der Talkmasterin dazu ein. Piffpaff!
Knalligste Kommentare
„Jedenfalls muss sich die CDU ernsthaft Gedanken machen“, schwant der FAZ-Journalistin. Eine „so schlechte Performance der Ampel, die sich in Krisenzeiten wie die Kesselflicker streiten“, sei „eine gemähte Wiese für eine Opposition“, doch die Union fehle eine „erkennbare Programmatik“.
„Die drei Themen, die diese Wahl entschieden haben, waren die Energiekrise, die Inflation und die Klimakrise“, doziert die ARD-Kollegin. „Da hat die CDU anscheinend keine Antworten geliefert. Und was die Klimakrise angeht: Da ist eine Leerstelle bei der CDU.“ Pfffft!
Bescheidenste Erfolgsmeldung
Immerhin hat sich CDU-Chef Merz schon mal einen grünen Schlips umgebunden. „Ich bin mit dem Jahr zufrieden“, tröstet er sich, „aber mit der Lage natürlich nicht. Da ist noch Luft nach oben.“
Sein Hoffnungsanker: „Wir haben ein deutlich besseres Ergebnis bekommen in Niedersachsen als bei der Bundestagswahl.“ Puh…
Unterschiedlichste Bewertungen
Maischberger piekst ihn mit einer Grafik an: „Die CDU hat 40.000 Wähler an die AfD verloren!“, hält sie ihm vor. Dass die Grünen sogar 45.000 Stimmen nach Rechtsaußen abgaben, sagt sie nicht, es geht ihr nur um die CDU-Verluste: Ob das auch an dem Merz-Misswort „Sozialtourismus“ für Ukraine-Flüchtlinge gelegen habe? möchte sie wissen.
„Das Thema hat im Wahlkampf keine Rolle gespielt“, wehrt sich der CDU-Chef und hält dagegen, „dass von der SPD und der FDP zusammengenommen mehr Wähler zur AfD gegangen sind als von uns“. Stimmt: SPD 25.000, FDP sogar 40.000.
Eindringlichste Warnung
Zur steigenden Zahl von Asylbewerbern in den deutschen Sozialsystemen mahnt der CDU-Chef: „Es hat große Teile der Koalition gegeben, Ministerpräsidenten, Oberbürgermeister, Landräte, die übereinstimmend sagen: Die Pullfaktoren sind zu groß.“
Seine Sorge: „Das gilt vor allem für die, die wir jetzt wieder stark einsteigen sehen über die Balkanroute. Wir werden in diesem Jahr wahrscheinlich die höchste Zahl an zusätzlichen Asylbewerbern haben, jenseits der Flüchtlinge aus der Ukraine: Wahrscheinlich höher als im Jahr 2016.“
Schiefster Vergleich
„Da erlauben wir uns, zu sagen, dass wir hier möglicherweise unseren Staat einfach überfordern“, fügt Merz energisch hinzu. „Das ist eine legitime Aufgabe auch einer politischen Partei, das auch zu sagen.“
Die Talkmasterin hat noch eine andere Grafik in petto: Nur flaue 28 Prozent sind mit der politischen Arbeit des CDU-Chefs zufrieden, bei Merkel waren es 2017 stolze 62 Prozent. „Nicht fair!“, murrt Merz. „Äpfel und Birnen“, denn Bundeskanzlerin und Oppositionsführer seien „völlig verschiedene Rollen“.
Präziseste Ankündigung
„Die Erneuerung der CDU hat angefangen“, meldet der Parteichef dann. „Das ist ein Langstreckenlauf. Wir sind jetzt dabei, in ein neues Grundsatzprogramm wirklich viel Zeit und Energie zu investieren. Das werden wir 2024 verabschieden. Wir brauchen Zeit.“
Dabei guckt er wie ein verlassener Ehemann, dem seine Frau schmutzige Teller in die Spüle gestapelt hat.
Wichtigster Punkt, so Merz: „Wir müssen, und ich bin entschlossen, das durchzusetzen, dazu kommen, dass wir in unserem Land wieder ein bisschen mehr Eigenverantwortung bereit sind zu übernehmen. Wir werden uns von dem Gedanken lösen müssen, dass der Staat alles machen, alles bezahlen, alles lösen kann.“
Interessanteste Personalien
Dass Markus Söder der beliebteste Politiker Deutschlands sei, ist, so Merz in Maischbergers Schnellquiz, „für einen bayerischen Ministerpräsidenten eine Auszeichnung.“
Kitzligste Frage: Die Laufzeit deutscher Atomkraftwerke sollte verlängert werden bis? „So wie Greta Thunberg das auch sieht“, antwortet der CDU-Chef cool, „mindestens bis Ende 2024.“
„Sie hat kein Datum genannt“, bremst die Talkmasterin, jedenfalls nicht „in dem Interview, das ich geführt habe und das morgen ausgestrahlt wird.“ Horrido!
Wertvollstes Zitat
Maischberger erinnert Merz an ein Wort vom zweiten Kriegstag: „Sie haben am 25.2. gesagt, Frieden und Freiheit in der Welt sind wichtiger als die Wirtschaft. Würden Sie diesen Satz heute noch einmal formulieren?“
„Ja“, antwortet der CDU-Chef. „Ich würde ihn sogar so formulieren, wie Kaja Kallas, die Ministerpräsidentin von Estland, es gesagt hat: ‚Energie mag teurer werden, aber Freiheit ist unbezahlbar.‘ Ein wunderbarer Satz!“ Dafür gibt‘s den ersten Beifall.
Alarmierendstes Lagebild
„Es kommt leider sehr spät“, schimpft Merz dann über das Konzept der Energiekommission. „Es wird ziemlich viel Unfrieden auslösen. Die Bundesregierung hat sechs Monate Zeit vertan. Mit Streitereien. Es wird nicht reichen. Wir kommen so nicht über den Winter.“ Wumms!
Seine entschiedenste Forderung zum nächsten Thema: „Man muss der ukrainischen Armee helfen, damit sie den militärischen Erfolg erzielt, der da lautet: Sie stoppen die russische Armee. Die russische Armee ist viel schwächer als gedacht. Die Ukraine kann diesen Krieg militärisch gewinnen.“ Doppelwumms!
Erschütterndste Zahl
Irina Scherbakowa, in Weimar im Exil, erfuhr vom Nobelpreis für ihre Menschenrechtsorganisation, als ihre Freunde in Moskau gerade vor Gericht vergeblich gegen die illegale Beschlagnahme ihres „Memorial“-Hauses kämpften.
Seit der Stalinzeit hat „Memorial“ in Russland mehr als zwölf Millionen Regime-Opfer gezählt. „Der Terror hinterlässt sehr tiefe Spuren“, klagt die Historikerin.
Erfreuteste Reaktionen
Militärexpertin Major sagt über die Explosionen auf der russischen Brücke zur Krim: „Dieser Angriff hat eine ganz starke symbolische Bedeutung: Russland kann sein eigenes Hinterland und die annektierten Gebiete nicht schützen.“
Außerdem wirke sich die Zerstörung, so Major weiter, auf die Versorgung der Truppen und der Bevölkerung der Südukraine aus: Schon im Sommer „sind die Touristen fluchtartig gegangen“, berichtet die Expertin, „und diesmal konnte man Hamsterkäufe sehen. In Russland kommt das Bild an, dass dieser Krieg nicht gewonnen werden kann!“
Letzte Meldung
Putins Atombombendrohungen sind für die Menschenrechtlerin ein „Bluff“. Die Militärexpertin wiederum erwartet im Winter auf dem Schlachtfeld „eine gewisse Ruhe“, aber die ukrainischen Siege hätten schon jetzt „die politische Realität in Russland verändert“.
Scherbatowa registriert dort sogar schon eine „Panikstimmung“, denn „man sieht in Moskau keine Männer auf der Straße. Man hat einfach Angst. Es wird gefoltert. Viele sind gestorben, noch bevor sie an die Front gekommen sind.“
„Die Ukraine braucht Panzer, damit sie weitere Gebiete befreien kann“, fordert Major zum Schluss, „weil wir in Butscha, Irpin, Isjum sehen, was unter russischer Besatzung passiert.“ Jetzt muss die Rettung endlich auf die Kette!
Zitat des Abends
„Die Ukraine muss gewinnen, und dann müssen Gerichte die Schuldigen zur Verantwortung ziehen.“ Irina Scherbakowa
Fazit
Klamme Lage, fordernde Probleme, klirrende Fragen, rasselnde Antworten: Das war eine Talkshow der Kategorie „Mutausbruch“.