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Lockerungs-Talk bei Anne Will: Kanzleramtschef Braun verspricht mehr und einfachere Tests für alle

„Anne Will: Die große Ratlosigkeit – gibt es einen Weg aus dem Dauer-Lockdown?“ ARD, Sonntag, 28.Februar 2021, 21.45 Uhr.

Der Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) hat in der ARD-Talkshow „Anne Will“ am Sonntag angekündigt, das die Bundesregierung kurzfristig deutlich mehr Tests und auch eine einfachere Strategie anstrebt.

Wörtlich sagte der Vertraute der Bundeskanzlerin, jeder solle einen Schnelltest machen können, und zwar kostenlos. Es sei nur noch zu klären, in welchen besonders infektionsgefährdeten Bereichen man einen solchen tagessaktuellen Schnelltest brauche.

Das neue Leitmotiv der Corona-Krise heißt „Pragmatismus“. Leider versteht darunter jeder etwas anderes. Anne Will Gäste:

Kanzleramtsminister Braun wirft sich für seine Chefin immer mannhaft ins Talk-Getümmel.

Ex-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) kämpft jetzt als bayerische Verfassungsrichterin eisern für die Grundrechte.

Prof. Christiane Woopen, Vorsitzende des Europäischen Ethikrats, ärgert sich: „Diese ganzen Talkshows können wir uns schenken. Senden wir doch einfach noch mal die vom letzten Jahr!

Michael F. Schmidt („Smudo“). Der Rapper („Die Fantastischen Vier“) ist Mitentwickler der „Luca“-App zur Nachverfolgung von Infektionsketten.

ARD-Experte Ranga Yogeshwar ist ein besonders wortreicher Dauergast der deutschen Talkszene.

Politik, Wissenschaft, Medien, und auch die Kultur ist auch mal wieder dabei!

Zum Auftakt ein verblüffender Lagebericht

Die Talkmasterin rollt einen Thementeppich mit Stolperfallen aus: „Geplant war, vom 1.März an allein die Friseurbetriebe zu öffnen“, stellte sie fest. „Daraus geworden sind mittlerweile die Gartencenter, die Blumenläden, die Fahrschulen, die Brautmodengeschäfte…“

Ihre erstaunte Erkenntnis: Beim letzten Bund-Länder-Treffen habe es geheißen, solange die Inzidenz nicht unter wöchentlich 35 Infektionen pro 100.000 Einwohner liege, gebe es „außer einem frischen Haarschnitt überhaupt nichts!“

Realistischste Positionsbeschreibung

Der Minister sah nicht glücklich aus. „Wir spüren ja alle, dass viele Menschen das Gefühl haben, jetzt sind wir seit November im Lockdown, jetzt muss es auch mal Öffnungen geben“, antwortete er betreten.

Das aber, so Braun weiter, „trifft zusammen mit der Tatsache, dass die Mutante zunimmt und deshalb die Zahlen jetzt auch wieder hochgehen. Deshalb müssen wir uns, wenn wir was öffnen wollen, was überlegen.“

Seine Bedingung: „Jeder Öffnung muss man etwas gegenüberstellen, was die Infektionszahlen stabilisiert!

Schmerzhafteste Frage

Prompt zündete Will den Grill: „Wie oft beißen Sie sich selbst…“ wollte sie wissen, nahm dann aber die Schärfe heraus: Das Thema schien wohl doch zu ernst für flapsige Bemerkungen über ministerliche Körperteile.

Stattdessen fragte sie Braun nun: „Wie oft beißen Sie in die Tischkante, weil Sie doch eigentlich der Mahner waren, der immer gesagt hat, man kann nicht öffnen vor der 35? Von der Sie ja schon viel, viel früher gesprochen haben als die Kanzlerin!“

Überzeugendster Strategiewechsel

„Grundsätzlich ist es so, dass sich die Pandemie auch immer entwickelt und immer neue Aspekte hinzutreten“, erklärte der Minister etwas schlicht. Aber: „Seit Oktober gibt es Schnelltests, und jetzt gibt es Schnelltests in einer ganz anderen Größenordnung!“

In den nächsten Tagen werde besprochen, so Braun weiter, „ob wir die zusätzlichen Kontakte, die bei Öffnungen entstehen werden, dadurch besonders sicher machen können, dass wir deutlich mehr testen, und deutliche einfacher, als das mit klassischen Labortests der Fall ist.“

Erwartbarste Statements

„Am Mittwoch muss es ein Konzept geben“, forderte die FDP-Politikerin. „Ein Schutzkonzept mit Maßnahmen, die Öffnungen auch verantwortbar machen!“

„Die echte Herausforderung ist jetzt, nach einem Jahr mit ein bisschen mehr zu kommen als nur mit Abstandsregeln, Kotaktbeschränkungen und Lockdown“, verlangte der ARD-Experte. „Das wird jetzt der Lackmustest sein für die Zukunft!“

Dann ging der Zoff los

Die Ethik-Professorin war genervt: „Man hört jetzt die gleichen Sätze und die gleichen Forderungen wie vor einem Jahr“, klagte sie.

Ihr Vorwurf: „Man hat damals keine systematische  Lockerungsstrategie mit transparenten Kriterien und wissenschaftlichen Begründungen geliefert. Man hat auch nichts getan, das wir jetzt schlauer wären!“

Peinlichste Feststellung

Deshalb werde ihr Expertenrat der Bund-Länder-Konferenz am Mittwoch „eine Art Strategiewechsel“ vorschlagen. Denn: „Das ist ein Teufelskreislauf, in dem wir drin sind!“

Denn, so Prof. Woopen: „Die Leute sind emotional erschöpft, existentiell bedroht, und das dritte ist die Perspektivlosigkeit, weil man sich von Konferenz zu Konferenz hangelt und immer nur überlegt: Lockdown ja, nein, ein bisschen mehr, ein bisschen weniger…“

Interessanteste Idee

Ihr Ziel sei, „vom „Reaktiven ins Proaktive zu kommen, in diese begleiteten, beschützte Öffnungen“, erläuterte die Professorin dann.

Entscheidend sei dabei, dass „man diese Öffnungen nicht an Zeiten oder Orte binde, sondern an bessere Schutzkonzepte.“ Sonst sei die dritte Welle unausweichlich.

Härtester Vorwurf

Wenn das Bundesgesundheitsamt sagt, sie haben 800 Millionen Schnelltests für dieses Jahr und das sei kein Mangel, dann ist das ein Schlag ins Gesicht der Bevölkerung!“ wetterte Woopen. „Denn diese 800 Millionen brauchen sie in ein paar Wochen auf, wenn sie die Öffnung wirklich beschützt durchführen wollen!“

Zu den Tests sei eine Informations- und Kommunikationskampagne im Fernsehen und auf Youtube nötig, meinte sie. Außerdem eine digitale Plattform für die Infektionskettennachverfolgung, mit Datentreuhänder. Uff!

Anspruchsvollste Fachdebatte

Dann wurde es speziell. Prof. Woopen will Tags mit Cluster-Erkennung für alle, die kein Smartphone haben. Braun rühmte die Corona-Warnapp, kann sich aber auch Tools für personalisierte Datenaufzeichnung vorstellen, allerdings nur auf freiwilliger Basis.

Ein ARD-Einspieler stellte die App „Luca“ vor, die Smudo anschließend erläuterte: „Ich versuche mich kurz zu fassen, es ist aber kompliziert!“ Dabei ging es um QR-Codes, ein medienbruchfreies Kontakttagebuch, Datenschlüssel, Tokens… Puh!

Stoßseufzer des Abends

Braun pries das SORMAS-System der Gesundheitsämter, hat aber nichts gegen „Luca“ und will sogar ein Gateway für die direkte Anbindung neuer Software-Lösungen schaffen. Yogeshwar durfte auch nicht fehlen, er zückte sein Handy und schimpft über fehlende Features.

Leute! Und das am Sonntagabend! Wir sind doch nicht beim ARD-Ratgeber Technik! Auch Braun sah den Talk an einem kritischen Punkt: „Wir kommen jetzt langsam ins Unterholz“, stöhnte er.

Kniffligste Frage

Im nächsten Einspieler ging es ums Testen und das Hü-Hott-Spiel der Bundesregierung auf Kosten des Gesundheitsministers. „Kommt das einem Rüffel für Jens Spahn gleich?“ fragte Will.

„Nein“, behauptete Braun ungerührt. „Wir haben am Montag im Corona-Kabinett darüber gesprochen und gemeinsam entschieden, dass wir das am Mittwoch noch einmal gemeinsam mit den Ländern besprechen.“

Aktuellste Strategie

Es gebe, so der Minister, zwei Facetten: kostenlose Schnellteste auch beim Arzt oder Apotheker und sogar zu Hause. Und regierungsamtliche Infos, wo die Infektionsgefahr so hoch sei, dass Schnelltests unabdingbar seien.

„Hier sind heute auch alle getestet, weil wir das als Firma auch anbieten“, hob die Talkmasterin hervor. Sie sagt korrekt „Firma“, nicht „Anstalt“ – Produzent der Talkshow ist nicht die ARD, sondern die „Will Media GmbH“.

Interessanteste Ankündigung

„Mein Eindruck ist, dass man sich jetzt so auf das Impfen verlässt, dass man das Sicherheitsnetz vergisst“, fürchtete die Professorin. „Wir sind nicht sicher, dass nicht irgendwann eine Mutation kommt, wo die Impfstoffe nicht greifen.“

„Da müssen Sie sich keine Sorgen machen“, beruhigte Braun. „Natürlich mache ich mir Sorgen!“ trotzte die Expertin. „Aber doch nicht, dass die Bundesregierung sich darüber keine Gedanken macht“, erwiderte Braun und versprach: „Wir bauen momentan eine Produktion auf für das übernächste Jahr.“ Lieb Vaterland, magst ruhig sein!

Fazit: Halbgare Infos für die chaosmüde Anderthalbmetergesellschaft, die dickfellige Politik wurde mehrfach angezählt, dazu extremes Fachgesimpel und ein paar Kanister coronalinsaure Moralpolitur: Das war ein Stress-Talk der Kategorie „Lock around the Clock“.

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