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Lockdown-Talk: Söder kreidet Kurz und Ramelow bei Anne Will große Fehler an

„Anne Will: Vier harte Wochen – wie nachhaltig wirken die Anti-Corona-Maßnahmen?“ ARD, Sonntag, 1.November 2020, 21.45 Uhr.

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder hat in der ARD-Talkshow „Anne Will“ am Sonntag dem österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz und dem thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow schwere Versäumnisse bei der Bekämpfung der Corona-Krise vorgeworden.

Wörtlich sagte Söder über die Politik der beiden Kollegen: „Immer dann, wenn jemand zu lange gewartet hat, muss er sehr scharf nachziehen.“

Der zweite Lockdown knockt die Party-People aus, doch auch die Normalverbraucher hängen in den Seilen: Der Fun ist futsch, der November noch trister als sonst und der Sinn steht in Frage. Anne Wills Gäste

Söder twitterte über den „Lockdown light“ bedauernd: „Leider geht es nicht anders.“

Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) stellt den Gastwirten immerhin in Aussicht, im Dezember wieder öffnen zu dürfen. Uff!

Die bayerische Verfassungsrichterin und Ex-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) twitterte vor der Sendung: „Die Corona-Krise darf kein Vorwand sein, um Freiheitsrechte einfach außer Kraft zu setzen!

Die Neurowissenschaftlerin Viola Priesemann warnt trotz der strengen Maßnahmen vor einem „drastischen Anstieg der Corona-Toten“.

Prof. Stefan Willich, Epidemiologe der „Charité“,  schwimmt gegen den Strom: Der Lockdown sei „in seiner Allgemeinheit überzogen“.

Der Jazz-Musiker und Fotograf Till Brönner ging mit einem Appell viral: Für viele Kollegen stehe „die Existenz gerade fundamental auf dem Spiel“.

Söder kam aus Nürnberg auf den Schirm und auch gleich als erster dran: „Natürlich gäbe es Alternativen“, sagte er. „Die Alternative wäre, es laufen zu lassen. Quasi dieses Modell des Durchseuchens“ – wie es etwa Schweden versucht.

Wichtigste Grundsatzerklärung

Doch, so der Ministerpräsident: „Das bedeutet einen enormen Anstieg der Infektionszahlen. Die Folgen sind das Volllaufen der Krankenhäuser und am Ende auch hohe Todeszahlen.“

Deshalb sei, so Söder, „Eindämmen die einzige realistische und ethisch vertretbare Alternative“, und „das heißt, Kontakte zu reduzieren.“ Punkt!

Realistischster Situationsbericht

Braun verteidigte die Politik der Bundesregierung bis ins Detail: „Wir haben den ganzen Sommer daran gearbeitet, dass wir die Kontaktverfolgung über die Gesundheitsämter gut hinkriegen, dass wir genügend Medikamente und genügend Schutzausrüstung haben“, berichtete er.

Denn, so der Kanzleramtsminister: „Wenn trotz aller Vorsichtsmaßnahmen die Infektionszahlen steigen, bleibt irgendwann nur noch das Instrument der Beschränkung übrig, um wieder in einen Kontrollzustand zurückzukehren!“ Da gibt es für ihn kein Vertun.

Deutlichste Kritikpunkte

Prompt kam von Willich Widerspruch: „Die Weltgesundheitsorganisation komme nach neuesten Studien auf eine Sterblichkeit von 0,2 bis 0.3 Prozent“, erklärte der Experte. „Was deutlich niedriger ist als das, was in der Öffentlichkeit immer angenommen wird.“

„Die Nebenwirkungen von Lockdowns sind gravierend“, stellte der Professor dazu fest und zählte auf: „Schäden im psychiatrischen Bereich, verschobene Eingriffe, Existenzbedrohung, Armut und daraus resultierend wieder gesundheitliche Schäden.“

Entwaffnendste Begründung

Die Talkmasterin zitierte aus dem Robert-Koch-Institut, dass man bei 75 Prozent der Infektionen gar nicht genau wisse, wo sich die Menschen angesteckt hätten. Ihre Frage an Söder: „Ist die Festlegung auf Gastronomie, Hotellerie und Kultur, die sich alle mächtig um Hygienekonzepte bemüht haben, willkürlich?“

Das Ziel sei, Kontakte zu reduzieren, antwortete der Ministerpräsident. Wenn man dabei aber auf Schulschließungen verzichte und auch die Arbeitsplätze erhalten wolle, „stellt sich die Frage, wo Sie dann Kontakte überhaupt noch reduzieren wollen!“

Deutlichste Schuldzuweisung

„Der ganze Freizeitbereich ist betroffen“, gab Söder zu. „Aber beim jetzigen Level der Ansteckungen ist es kaum mehr möglich, dass die Hygienemaßnahen, die in diesem Bereich getroffen wurden, die Wirkung haben, die wir uns erhofft haben.“

Denn, so der Vorwurf des Ministerpräsidenten: „Viele Menschen haben sich super an die Maßnahmen gehalten, vielen Dank dafür – aber viele eben auch nicht!

Härteste Attacke

Leutheusser-Schnarrenberger brachte Zahlen zur Corona-Justiz ein: Seit April/Mai über 240 Urteile, vor allem zum Beherbergungsverbot. Wichtigste Grund für die häufigen Aufhebungen: Keine wirklichen Beweise für die Notwendigkeit, keine rechtlich tragfähige Grundlage.

„Man braucht klare Gesetze!“ wetterte die FDP-Politikerin. „Das hätte man im Sommer vorbereiten können!“

Gelungenster Gegenangriff

„In Bayern haben wir nur drei bis vier Prozent der Fälle verloren“, konterte Söder. „Sogar die Grünen haben die Staatsregierung unterstützt!“

Zwar sei es wichtig, das Bundesinfektionsschutzgesetz „noch einmal zu verbreitern und zu stärken, weil das die Akzeptanz erhöhen würde.“ Aber, so der Ministerpräsident energisch: „Endlose Rechtsstreitigkeiten bringen niemandem etwas!“.

Dann ging der Zoff los

Die Verfassungsrichterin lächelte höhnisch, und Söder ärgerte sich darüber: „Weil die Frau Leutheusser-Schnarrenberger das alles zu Recht anspricht“, sagte er, „man merkt doch, wie schwierig das ist. Die FDP beispielsweise stimmt ja in den Ländern zu, ist aber auf der Bundesebene skeptisch!

Die Ex-Ministerin feuerte sofort zurück: „Da haben wir sie so ein bisschen bei Ihnen abgekupfert, Herr Söder! Die CSU ist ja meistens in Regierungen dabei, und aus Bayern dann immer in der Opposition gegenüber der Bundesregierung. Das war immer so ein Spiel, das wollen wir nicht spielen…“

„Sie machen es jetzt aber“, fuhr ihr die Talkmasterin in die Parade.

Ordnungsruf des Abends

Der Kanzleramtsministet witterte Gefahr: „Ich glaube, man muss aufpassen, dass wir jetzt nicht in einer ganz schwierigen Lage eine Paralleldebatte führen“, warnte er.

Denn, so Braun: „Es geht darum, dass sich die Menschen fragen: Sind diese Maßnahmen jetzt richtig und verhältnismäßig? Das ist auch die Frage, die die Gerichte stellen. Und angesichts dieser Bedrohung kann man das absolut bejahen!“

Alarmierendste Gefahrenanalyse

Forscherin Priesemann schaltet die Sirene ein: „Wir haben Ende September eine unkontrollierte Ausbreitung gehabt“, stellte sie beunruhigt fest. „Es gibt immer mehr Träger, die gar nicht wissen, dass sie den Virus weitertragen, und die heizen jetzt die Ausbreitung an!“

Ihre Sorge: „Wir wissen nicht, was die neuen Einschränkungen bringen. Und 20.000 Neuinfektionen pro Tag sind keine langfristige Lösung!“

Lichtblick des Abends

„Es gibt auf der ganzen Welt kein besseres Rezept als die Kontakte zu reduzieren!“ machte Söder noch einmal klar.

Seine Hoffnung: „Der Bundesgesundheitsminister hat ja sogar in Aussicht gestellt, dass Ende des Jahres oder Anfang des nächsten Jahres zumindest die Möglichkeit der Zulassung von Impfstoffen besteht. Wir brauchen Geduld, wir brauchen gute Nerven und ein bisschen Optimismus!

Auch ein kleines Selbstlob war noch drin: „Wir sind bisher gut durch die Krise gekommen, weil wir so gut und entschlossen reagiert haben“, fügte Söder hinzu. „Wir sollten jetzt genau das Gleiche tun.“

Schönstes Nachkarten

Über den Österreicher Sebastian Kurz sagte der Ministerpräsident kritisch, am Anfang habe man von ihm lernen können, später aber nicht mehr.

Söder hatte zuletzt in den Talkshows einiges abgekriegt, auch dann, wenn er gar nicht dabei war. Jetzt war er mal mit dem Austeilen dran. „Es ist sehr beeindruckend“, freute er sich über das Umschwenken etwa des Erfurter Kollegen Bodo Ramelow, „dass andere Bundesländer wie Thüringen, die vor zwei Wochen gesagt haben, wir machen gar nichts, jetzt erkannt haben: Ja, es wächst bei uns auch schnell…

Bewegendste Klage

Jazz-Musiker Brönner kämpfte für seine Branche: „1,5 Millionen Menschen im Veranstaltungsbereich sind am Ende!“

Leuheusser-Schnarrenberger eilte dem Musiker zu Hilfe: „Kultur wird anscheinend nicht als systemrelevant angesehen!“ schimpfte sie.

Aufschlussreichster Wortwechsel

Braun sitzt im Glashaus und wirft trotzdem nicht mit Wattebäuschchen: „Das hilft uns jetzt wirklich nicht weiter“, mahnte er die FDP-Politikerin ab. „Vom Weg zum Kulturevent bis zu dem, was man danach tut: Wir müssen die Kontakte in der Gesellschaft reduzieren!“

„Dann können Sie auch die Fahrt zum Arbeitsplatz nehmen!“ ärgerte sich Leutheusser-Schnarrenberger.

Da wurde sogar der sonst stets wohltemperierte Kanzleramtsminister sauer: „Wenn wir gesagt hätten, wir machen die Schulen oder die Wirtschaft zu, dann wären Sie genauso der Meinung, dass das auf keinen Fall geht“, ätzte er. Rumms!

Besorgtester Schlussappell

„In zwei Wochen schauen wir, ob die Maßnahmen reichen“, erklärte Braun. „Dann müssen wir sie gegebenenfalls noch mal verstärken. Vielleicht können wir sie sogar abschwächen, aber das halte ich jetzt nicht für besonders wahrscheinlich.“

Will las ein schönes Zitat vor: „Karl Lauterbach hat gesagt: Die Vorstellung, man könne als Gesellschaft mit dem Virus leben, ließe sich mit der Idee vergleichen, man könne sich einen Tiger als Haustier halten.“

„Wir machen immer nur das, was notwendig ist“, versprach Merkel-Mann Braun zum Schluss. „Und dann müssen wir gucken: Dreht der Tanker? Dreht die Kurve nach unten? Ich gehe fest davon aus, dass wir das Infektionsgeschehen mit unseren Maßnahmen deutlich bremsen. Aber der Gesamterfolg hängt unglaublich vom Willen jedes einzelnen ab.“

Fazit: Endlich mal kein gratismutiger Schausprech aus der öffentlichen Lippenbekenntnisschule, sondern klare Positionsmeldungen, mutige Kurssuche in schwerer See und ein panikresistentes Bordorchester. Das war ein Talk der Kategorie „Pauken und Trompeten“.

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