„Anne Will: Lockern auf Probe – wohin führt der Strategiewechsel in der Pandemiepolitik?“ ARD, Sonntag, 7.März 2021, 21.45 Uhr.
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haselhoff (CDU) ließ in der ARD-Talkshow „Anne Will“ am Sonntag deutlich durchblicken, dass es bei der Bund-Länderkonferenz mit Angela Merkel diesmal zu besonders zähen Auseinandersetzungen gekommen war.
Dabei sei es besonders um den von Merkel hartnäckig als Lockdown-Bremse geforderten Inzidenzwert von höchstens 35 Infektionen pro Woche und 100.000 Einwohner gegangen. Am Ende musste sie nachgeben. Haseloff: „Wissen Sie, wie hart es war, das der Kanzlerin abzuringen?“
Bei der Union brennt die Hütte: Faule Deals gieriger Volksvertreter, der Gesundheitsminister unter Dauerfeuer, die Umfragewerte im freien Fall! Anne Will fragt noch einmal ein schon mehrfach durchgekautes Thema ab. Die Gäste:
Haseloff kämpft gegen „Abwarteszenarien“ und „Open-End-Lockdowns“.
Prof. Karl Lauterbach (58, SPD). Der Gesundheitsheros der Sozialdemokratie priorisiert das Motto „Landgraf, bleibe hart!“
Lisa Federle (59). Die Notärztin und Pandemie-Beauftragte des Landkreises Tübingen handelt schneller, als andere analysieren.
Angela Inselkammer (67). Die Präsidentin des Bayerischen Hotel- und Gaststättenverbandes kämpft mit dem Mut der Verzweiflung für ihre dahinsiechende Branche.
Markus Feldenkirchen (45). Der Journalist („Spiegel“) wettert auf Twitter über die Unionsabgeordneten mit den tiefen Taschen: „Eine Schande für dieses Land!“
Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien, alles da.
Auch das Zoff-o-Meter kennt keine Corona-Pause…
Härtester erster Aufschlag
„Spiegel“-Feldenkirchen bekam zum Start das Wort und ließ einen Kettenvorwurf rasseln: „Zu lange auf den Lorbeeren vom Frühjahr ausgeruht!“ wetterte er. „Umgang mit der zweiten Welle zu halbherzig! Tests nicht vorhanden! Ganz einfach schlechtes Regierungshandeln!“
Der Ministerpräsident verteidigte die Ergebnisse der Bund-Länder-Konferenz mit viel Nachdruck: „Der Beschluss ist durchaus vor dem Hintergrund der aktuellen Situation mit Augenmaß gefällt worden!“ behauptete er.
Denn, so Haselhoff über die Zahl der Ansteckungen pro Woche und 100.00 Einwohner: „Wir haben noch hohe Inzidenzen!“ Aber: „Wir haben auf jeden Fall einen Beschluss gefasst, der jetzt eine Perspektive eröffnet, in welchen zeitlichen Abläufen wir was machen können.“
Interessanteste Darstellung
Dann hielt der Ministerpräsident eine Grafik in die Kamera: „Wo liegt denn Deutschland bei der Bewältigung der Pandemie? Bis auf Dänemark und Deutschland hier unten sind alle Länder bei den Inzidenzen schwieriger.“
Haselhoffs zufriedene Feststellung: „Wir haben das, denke ich mal, bezüglich dessen, was wir in Deutschland hinbekommen haben, versucht, so weit im Griff zu halten, dass wir das Menschenmögliche versucht haben auch zu tun.“ Uff!
Vorsichtigste Prognose
Über den ersehnten Unlock-Day sagt der Ministerpräsident: „Der Beschluss zeigt, dass wir nicht alles schlagartig aufmachen können.“
Aber: „Auf der anderen Seite brauchen wir auch eine Botschaft für die Menschen, die wissen wollen: Wie geht’s jetzt weiter?“ erklärte Haselhoff. „Mit Blick auf das Osterfest ist noch einiges denkbar, mit Blick auf Pfingsten sowieso!“
Eleganteste Beanstandung
Lauterbach möchte lieber ein Corona-Held als eine Corona-Petze sein und packt inzwischen auch seine Kritik immer schön in Watte.
Bei der Impfstoffbeschaffung, sagte er in akademischer Höflichkeit, „hat die EU so gehandelt, wie sie es sicherlich nicht wiederholen würde.“ Rücksichtsvoller kann man es kaum ausdrücken.
Freundlichste Formulierung
„Die Lockerung wird im Prinzip keine Rolle spielen, weil die Fallzahlen in den nächsten Wochen stetig steigen werden“, warnte der Gesundheitspolitiker dann. Die Voraussetzungen für die Lockerung seien gleichbleibende oder sogar sinkende Fallzahlen, und diese Voraussetzungen könnten realistischer Weise gar nicht erfüllt werden.
Lauterbach dazu in bisher unbekannter Milde: „Ich glaube, dass es eine unglückliche Beschlusslage ist.“ Heiterkeit im Studio! Früher hatte der kantige Diskutant bei seinen Attacken deutlich mehr Schaum vor dem Mund.
Wutrede des Abends
Ungewöhnliches Temperament zeigte dagegen Gastro-Präsidentin Inselkammer: „Wirtschaftlich keine echte Perspektive!“ kanzelte sie den Lockerungsplan ab.
Hauptgrund ihrer Beschwerde: „Ostern dürfen die Menschen nicht in unsere Hotels, aber sie können sehr wohl ins Ausland fahren! Wieso lässt man das zu?“
„Wir haben ausgefeilten Hygienekonzepte“, fügte sie hinzu. Und nun bricht es aus ihr heraus: „Die Verzweiflung da draußen ist so groß, es ist kein Tag, dass nicht Menschen bei mir anrufen und weinen, weil sie alles verlieren, was sie jemals aufgebaut haben!“
Prompt gab es Zoff
„Es ist doch so, dass die Menschen das heute gar nicht mehr mitmachen!“ wetterte Inselkammer weiter. „Schauen Sie doch mal bei schönem Wetter auf die Plätze, was da los ist!“
Lauterbach hielt mit einer neuen US-Studie gegen: Dort habe die Öffnung der Gastronomie in geschlossenen Räumen dazu geführt, dass zuerst die Fallzahlen und dann die Todeszahlen gestiegen seien.
Größter Ärger
„Ich bin absolut dagegen, dass man jetzt zu Hause diese Selbsttests durchführt und dann überhaupt nicht weiß, was man damit macht!“ kritisierte Federle.
Denn, so die vielgelobte Pandemie-Ärztin: „Die Selbsttests in den Supermärkten waren in kürzester Zeit ausverkauft. Aber innerhalb kürzester Zeit hatten wir in unserer Fieber-Ambulanz viele, die gesagt haben, sie sind positiv und wissen nicht, was sie jetzt machen sollen.“
Federles Konsequenz: „Das bedeutet, dass die Kommunen überall Testzentren aufbauen und die Leute anlernen müssen“, forderte die Ärztin. „Erst dann kann das nach und nach in die Eigenverantwortung gegeben werden. Und wir brauchen eine Kontrolle!“
Musikalischste Info
Die Ärztin weiß auch, wie‘s gemacht wird: „Wir haben schon seit November kostenlose Schnelltests auf Spendenbasis“, berichtete sie.
Ein besonderes Lob widmete sie einer Gruppe von Künstlern: „Die Band von Dieter Thomas Kuhn, die stehen seit Monaten kostenlos da und testen!“
Gelungenster Seitenhieb
Und woher hat sie die Tests? wollte Will wissen. Federle: „Ich habe genügend angeboten gekriegt, schon im Oktober. Ich war die erste, die bestellt hat. Firmen haben Spenden gegeben.“
Und: „Wir haben für drei Millionen Tests bestellt“, meldete die Ärztin stolz. „Und ich gehöre nicht zu der Gruppe, die daran verdient. Das wollte ich jetzt gleich mal sagen!“
Rumms! Da war es endlich, das große Zoff-Thema des Tages. Doch die Talkmasterin ging nicht darauf ein. Stand wohl ncht im Konzept. Typisch ARD-Planwirtschaft!
Stoßseufzer des Abends
„Sie haben ja engen Kontakt mit der Bundeskanzlerin“, schmeichelt die Talkmasterin dem Gesundheitspolitiker. Ihre Frage: Angela Merkel sage jetzt in Sachen Lockerung plötzlich etwas anderes als zuvor. Warum?
Doch Paradepferd Lauterbach verweigert den Sprung: „Ich bin definitiv vieles“, spottet er, „aber nicht der Pressesprecher von Angela Merkel!“
Die Talkmasterin ließ trotzdem nicht locker: „Aber ihr Berater!“ sagte sie.
„Da gibt es viele“, erwiderte Lauterbach und ulkte: „Ich wünschte, ich wäre der einzige.“ Gesteigerte Heiterkeit in der Runde!
Verblüffendste Info
„Ich halte es für dringend notwendig, dass wir jetzt mal eine echten Bestand machen“, forderte Lauterbach dann. Die wichtigste Frage sei: „Wie viele Schnelltests zum Selbermachen sind maximal wann erhältlich?“
„Wissen Sie das nicht?“ staunte Will.
„De facto weiß das zum jetzigen Zeitpunkt in Deutschland niemand“ antwortete der Gesundheitspolitiker so knapp wie klar.
Die Talkmasterin wollte ihn mit einem weiten Einwurf in den Angriff schicken: „Das ist ein Skandal, eigentlich!“
Doch Lauterbach blieb cool: „Ich will das nicht bewerten, sondern nur beschreiben!“ Da lachte sich Hasselhoff schlapp.
Zornigste Attacke
„Ich platze jetzt gleich!“ schimpft die Gastro-Präsidentin. „Wir sind ein relevanter Wirtschaftsbereich mit über zwei Millionen Mitarbeitern und 200.000 Betrieben, aber wir werden überhaupt nicht gefragt! Dabei haben wir doch die Hygiene mit der Muttermilch aufgesogen!“
Ihr wichtigstes Zusatzargument: „Die Leute sind auf dem Platz, kaufen sich was zum Essen, lassen die Bierlaschen kreisen. An der Isar sind Tausende Mann an Mann! Wir könnten das Kontaktbedürfnis der Menschen in geregelte Bahnen bringen. Ich verstehe nicht, warum man uns nicht einbezieht!“
Erfreulichstes Zugeständnis
Ein ARD-Einspieler zeigt den BILD-Bericht über den Aerosol-Experten Gerhard Scheuch. Titel: „Draußen sind wir zu 99,9 Prozent sicher.“ Kernsätze: „Wir könnten in der Außengastronomie sehr viel mehr machen. Die Einschränkungen im Freien könnten wir relativ schnell aufheben! Das kann man sofort machen!“
Das sieht nun auch Lauterbach so: „Ich bin für die Öffnung der Außengastronomie“, erklärt er, allerdings nur mit Antigen-Tests. Heißt: Erst zum Gesundheitszentrum und dann in den Biergarten. Ein Prosit der Gemütlichkeit!
Letztes Gefecht
Und die Abzocker von der Union mit den miesen Corona-Geschäften? Diesen Aufreger drückte Will den „Tagesthemen“ in den Skat.
„Pinar Atalay kümmert sich jetzt um das Thema, das wir nur ganz, ganz zart mal angetippt haben“, kündigte sie an. „Nämlich um die Frage, ob sich Abgeordnete der Unionsfraktion mit Maskenverkäufen bereichert haben könnten. Die Unschuldsvermutung gilt natürlich nach wie vor.“ Amen!
Fazit: Wenig Neues, viel Altes, mehr Rück- als Durchblick, dazu endlose Bandwurmfragen der Talkmasterin und leider nur wolkige Hoffnungszeichen. Das war ein Talk der Kategorie „Dienst nach Vorschrift“.