„maischberger. die woche“. ARD, Mittwoch, 16.März 2022, 23.10 Uhr.
Zarte Hoffnung auf Waffenruhe in der Ukraine, aber Vorsicht vor Kreml-Tricks! Sandra Maischbergers „Woche“-Talk kümmert sich außerdem um Tanke und Kranke. Die Gäste:
Christian Lindner (43). Der Bundesfinanzminister will 200 Milliarden pumpen, um Preise zu deckeln.
Alexander Rodnyansky (35). Der Wirtschaftswissenschaftler berät den ukrainischen Freiheitspräsidenten Wolodymyr Selenskyj.
Natascha Sindeewa (50). Die TV-Chefin kämpfte bis zum Schluss um „Doshd“ („Regen“), Russlands letzten freien Fernsehsender.
Wolfram Weimer (57). Der Publizist („The European“) warnte schon vor Wochen: „Putin nutzt einen besonderen Moment der politischen Schwäche der EU aus!“
Tilo Jung (36). Der Podcaster („Jung & Naiv) lästert auf Twitter: „Lindner versuchte mir heute zu erklären, warum auch Porsche-Fahrer von seinem Tankrabatt profitieren sollen.“
Anja Kohl (51). Die ARD-Börsenexpertin will die Sanktionen ausweiten: „Putin blufft!“
Infos aus erster Quelle. Wie strittig sind die Kommentare?
Deprimierendster Start
Die ARD-Journalistin darf als erste loslegen und schimpft volle Lotte. Ihre finsteren Prognosen: „Inflation als Dauerzustand! Weltwirtschaftliche Krise! Die Kosten dieses Krieges werden auf nicht absehbare Zeit hoch sein!“
Noch schlimmer: „Der Wendepunkt dieses Krieges ist Mariupol“, ahnt Kohl. „Eine Stadt von 300.000 Menschen, belagert, ohne Wasser, ohne Essen, ohne medizinische Versorgung, ohne Strom.“ Es sei zu fürchten, „dass das eine Art europäisches Aleppo wird!“
Unpassendste Reaktion
„Die russische Wirtschaft steuert auf einen Kollaps zu“, kündigt die ARD-Journalistin an. „Es ist der Anfang von Ende von Putin. Es ist nur die Frage, wann das passiert.“
Ungläubiges Lachen der Talkmasterin, doch die Börsenexpertin lässt sich nicht beirren: „Die russische Wirtschaft wird sich nicht halten können“, warnt sie ernst. Maischbergers Miene drückt trotzdem amüsiertes Zweifeln aus. Uff!
Dann geht schon das Zoff-o-Meter los
„Es war ein Fehler Deutschlands und der EU, sich nicht dem US-Ölembargo anzuschließen!“ wettert Kohl. „Drei Viertel aller Einnahmen generiert Russland aus dem Öl, nicht aus dem Gas. 500 Millionen pro Woche! Und Öl ist ersetzbar. Das können die Saudis, die Emirate, Venezuela, Iran…“
„Ich bin da eher bei der Bundesregierung“, widerspricht Weimer. „In dieser Situation muss man trotz aller moralischen Verärgerung, aller Wut und inneren Weinens einen kühlen Kopf bewahren, weil wir alle kein Interesse haben, dass wir in den Dritten Weltkrieg schliddern!“
Podcaster Jung hat die Hemdsärmel aufgekrempelt und sich was ausgedacht: Der vom Finanzminister angeregte Tank-Rabatt sei ein „Putin-Soli“. Heidewitzka!
Erschütterndste Feststellung
Präsidentenberater Rodnyansky stellt die Weiche auf Seriös. Beim Besuch der drei Regierungschefs sei es darum gegangen, den Sturm auf Kiew aufzuschieben: „Jetzt sind sie wieder weg, und der Krieg ist in vollem Gange.“
Senderchefin Sindeewa wird „von einem unbekannten Ort zugeschaltet“ und sitzt in einem schwarzen Kapuzenpulli vor der Kamera. Sie fürchte nicht um ihr Leben, erklärt sie, sondern: „Wovor wie Angst haben, ist, dass die Welt zerstört wird. Länder, Beziehungen, Familien, das ganze Leben der Menschen wird komplett zerstört. Die ganze Ukraine, und auch das Leben vieler Russen.“
Schockierendste Anklage
„Kiew steht noch, aber im Osten und im Norden sind gravierende Zerstörungen zu sehen“, schildert Rodnyansky sichtlich erschüttert. „Es mehren sich Gerüchte über Vergewaltigungen.“
Sein grausamstes Beispiel: „Ein Freund hat mir vor kurzem von einer Familie erzählt, die er sehr gut kennt. Der Mann wurde vor der Frau erschossen, im Garten liegen gelassen, die Frau vergewaltigt, und dann (ist sie) mit dem Kind ohne Kleidung davongelaufen.“
Wichtigste Forderungen
„Natürlich glauben wir, dass wir diesen Krieg gewinnen können“, erklärt der Wirtschaftsberater. „Momentan gewinnen wir ihn auch. Die Frage ist nur, wie lange es noch dauern wird, wie viele Menschen noch sterben werden und was die Kosten werden für Europa.“
Nötig seien jetzt „weitere militärische Unterstützung mit sehr fortgeschrittenen Flugabwehrwaffen wie die Patriot oder die S-300“ und „mehr Sanktionen, weil die russische Kriegsmaschine durch den Erlös aus den Verkäufen von Erdöl, Gas und Kohle weitergetrieben wird.“
Bewegendste Klage
Über ihr mutige Kollegin Marina Owsjannikowa, die sich mit einem „No War“-Plakat in die russischen Hauptnachrichten wagte, sagt Sindeewa: „Was sie getan hat, hat uns alle in Begeisterung versetzt. Weil es heroisch war. Weil sie genau wusste, was sie da riskiert.“
„Aber“, so die Senderchefin weiter, „auch viel zu spät. Wenn Journalisten sich früher erhoben hätten, persönlich ihre Meinung öffentlich gesagt hätten! Wenn ich Alexander (Rodnyansky) zuhöre, möchte ich weinen.“
Klarsichtigster Kommentar
Über die plötzlichen Schalmeienklänge aus dem Kreml urteilt der Selenskij-Berater: „Bis jetzt glauben wir nicht wirklich an eine friedliche Lösung. Es deckt sich nicht mit den russischen Handlungen in der Ukraine. Wir glauben, dass das wieder eine Täuschung ist.“
„Das Ziel“, so Rodnyansky weiter, „ist, Zeit zu kaufen. Um die Strategie anzupassen, Truppen heranzuziehen und dann wieder eine Offensive zu starten. Und gleichzeitig den Menschen im Westen Hoffnung geben, dass ein Embargo gar nicht nötig sei.“ Dabei seien die Kosten für die Sanktionen „deutlich geringer als der wirtschaftliche Rückgang während der Corona-Krise.“
Klarste Kante
Der Finanzminister wird mit einem Foto eingeführt, das ihn als Reserve-Hauptmann in Uniform zeigt. Nach dem Abi 1998 habe er Zivildienst geleistet, um seine Existenz zu sichern, erzählt Lindner. Dann aber habe er sich „sehr rasch freiwillig für den Wehrdienst entschieden.“ Seit zwanzig Jahre diene er in Urlaub und Freizeit bei der Luftwaffe. Horrido!
„Es darf keine Auseinandersetzung zwischen der Nato und Russland geben, weil dann die Gefahr einer nuklearen Eskalation zu groß wäre“, warnt der Minister dann. Zur Forderung nach einem kompletten Gas- und Öl-Embargo sage er „ausdrücklich“: „Alle Optionen legen jeden Tag auf dem Tisch!“
Schlüssigste Begründung
Lindners knallharte Putin-Analyse: „Ich glaube, seine Kriegsziele sind nicht mehr erreichbar.“ Mit einem Energie-Embargo aber „würden wir zu sehr unsere eigene Durchhaltefähigkeit schwächen.“
„Was wäre die Grenze, die nicht überschritten werden darf?“, möchte die Talkmasterin wissen. „Das Öl wäre leichter zu ersetzen. Wäre das ein erster Schritt?“
„Aus möglicherweise nachvollziehbaren Gründen möchte ich das im Einzelnen öffentlich nicht kommentieren“, antwortet der Minister. „So viel will ich aber sagen, dass wir dabei sind, alle unsere Möglichkeiten auszuschöpfen, zusätzliche Reserven aufzubauen. Das gilt für Kohle, Gas und Öl.“
Und wieder Zoff
Zu seiner Rabatt-Idee sagt Lindner überzeugt: „Hier geht es darum, dass wir sehr schnell in der ganzen Breite der Volkswirtschaft befristet einen Entlastungseffekt benötigen, der die Familie aus der Mittelschicht, den Pendler, die ambulante Altenpflegerin, das Logistikgewerbe sofort…“
Maischberger beugt sich angriffslustig vor: „Warum wollen Sie jemanden wie sich entlasten, der es wirklich nicht braucht?“, fragt sie provozierend. Die Rabatte werde es ja für Reiche wie für Arme geben.
Genervtester Dialog
„Auch bei der Mehrwertsteuer wird nicht nach der finanziellen Leistungsfähigkeit unterschieden“, doziert der Minister. Außerdem gehe Entlastung über Rabatt auch deutlich schneller als mit einer komplizierten Steuererleichterung.
Maischberger funkt gleich wieder dazwischen: „Ich will Sie nicht unterbrechen…“
„Tun Sie aber gerade!“, ärgert sich der Minister und lacht gezwungen. „Dann lassen Sie es doch!“
„Ich habe alles gehört, was Sie gesagt haben“, wehrt sich die Talkmasterin.
„Aber die Zuschauer nicht!“, kontert Lindner. „Lassen Sie mich doch einmal einen Satz zu Ende machen!“
Letzte Mahnung
Das Schlusswort widmet Publizist Weimar dem Thema Corona: „Wenn ich sehe, dass andere Länder, die viel härter getroffen wurden als wir, jetzt viel weiter sind auf dem Weg in die Normalität, finde ich, wir könnten uns das auch trauen“, tadelt er.
„Für mich ist damit auch ein bestimmtes Staatsbild verbunden“, erklärt er. „Jeder von uns kann weiter vorsichtig sein. Aber bestimmte Risiken müssen wir als Bürger, als Bürgergesellschaft auch wieder selber organisieren.“ Amen!
Fazit
Eifrige Diskutanten, die kaum zu bremsen waren, und eine übereifrige Talkmasterin, die im Markus-Lanz-Stil permanent schlauer sein wollte als ihre Gäste: Das war eine Talkshow der Kategorie „Sängerkrieg“.