„Maischberger“. ARD, Mittwoch, 19.Oktober 2022, 22.50 Uhr.
Gestern noch auf stolzen Rossen, heute durch die Brust geschossen: Die Grünen feiern ihren Anti-Atomkraft-Beschluss als großen Triumph und der Kanzler tritt ihn ein paar Tage später einfach in die Tonne! Außerdem talkt Sandra Maischberger heute über die Ukraine und den Iran. Die Gäste:
Christian Lindner (43, FDP). Ausgerechnet der Chefliberale jubelt über den heftigen Basta-Anfall bei Olaf Scholz: „Der Bundeskanzler hat nun Klarheit geschaffen!“
Omid Nouripour (47, Grüne). Der Ökoparteichef muss laufend zentrale Positionen räumen: „Wir machen Dinge, die wir nicht tun wollen!“
Nargess Eskandari-Grünberg (57). Die Frankfurter Bürgermeisterin, selbst eineinhalb Jahre in Teherans berüchtigtem Evin-Gefängnis inhaftiert, sagt über die Frauenjagd der Mullahs: „Das darf uns nicht kaltlassen!“
Ulrike Herrmann (58). Die Journalistin („taz“) fordert streng, außer den Bedürftigen „müssen alle im Portemonnaie drastisch erleben, dass Gas knapp ist!“
Jessica Berlin (35). Die Politologin vom German Marshal Fund“ warnt auf Twitter: „Russland gewinnt einen riesigen taktischen Vorteil aus den Atomdrohungen: unsere Angst!“
Stefan Aust (76). Der WELT-Herausgeber lästert, dass Robert Habeck „vom Thema seines Ministeriums erkennbar wenig versteht.“ Uff!
Streitlustige Politiker, kantige Kommentatoren: das Zoff-o-Meter geht heute von einer besonders hohen Trefferquote aus!
Klarsichtigster Kulissenblick
WELT-Herausgeber Aust macht erst mal ein Guckloch ins Bühnenbild und hängt das Kanzler-Basta deutlich tiefer: Scholz habe den Konflikt gar nicht etwa gelöst, sondern „er hat den Streit verschoben“. Uff!
„Mir war jedenfalls klar, dass Scholz im Grunde gar nichts anderes übrig bleibt, als ein Machtwort zu sprechen“, behauptet der Journalist. „Machtwort heißt ja nur, dass er von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht hat. Ich glaube, die anderen haben darauf gewartet. Das ist ein Zeichen von etwas verspäteter Stärke.“
Kleinster Nenner
„Scholz führt von hinten, genauso wie Angela Merkel“, analysiert „taz“-Journalistin Herrmann. „Man guckt, wo die Mehrheiten sind, und dann wird so entschieden, dass alle ihr Gesicht wahren können.“
„Das ist ein Führungsstil mit Zukunft“, urteilt die „taz“-Frau. „Wenn sich alle sicher sein können, o.k., mein Gesicht wird gewahrt, dann werden sie Scholz als Führer akzeptieren können.“
Hoffnungsvollste Anregung
Maischberger zeigt ein Scholz-Zitat vom 11.August zum Thema Richtlinienkompetenz: „Es ist gut, dass ich sie habe“, hatte der Kanzler damals gesagt, „aber natürlich nicht in der Form, das ich jemanden einen Brief schreibe: Bitte, Herr Minister, machen Sie das Folgende!“
„Das war jetzt aber doch so“, meldet sich Aust. „In dieser Situation abzuschalten, das wäre wie eine Sabotage gewesen!“ Denn von Ministern könne man erwarten, „dass sie die Realität einschätzen, wie sie ist, und sich nicht nach den ideologischen Vorstellungen ihrer Parteifreunde richten.“ Dafür gibt‘s den ersten Applaus.
Kompetenteste Theaterkritik
„Alle drei Parteien sind permanent im Wahlkampf“, gutachtet Herrmann. „Jede muss gucken, dass sie erkennbar ist, irgendwie vorkommt, und das geht nur, indem man sich streitet.“ Aber: „Der Konflikt muss geplant und geordnet inszeniert werden.“
„Es ging weniger um die Minister als um die Wähler, vor allem bei den Grünen“, meint Politologin Berlin. „Die Frage der Atomenergie ist ihr Raison d’Être (Daseinszweck) gewesen.“
„Eine gewissen Inszenierung ist da schon erkennbar“, assistiert Aust, „vor allem gegenüber der linken Basis. Die haben ja vor ein paar Tagen noch gedacht, wenn sie das entscheiden, dann gilt das auch.“ Har har!
Realistischste Rechnung
„Es ist eine totale Illusion, zu glauben, dass man ein Industrieland mit erneuerbare Energien auf irgendeine Weise versorgen kann“, warnt der WELT-Mann dann. Die knapp 30.000 Windräder lieferten gerade mal 3,5 Prozent der Primärenergie.
„Wenn wir zehn Mal so viel haben wollten, brauchen wir 300.000“, rechnet Aust vor, und das bei einer Gesamtfläche der Bundesrepublik von 360.000 Quadratkilometern. Ächz!
Prompt springt das Zoff-o-Meter an
„taz“-Herrmann hält mit einem schrillen Horrorszenario dagegen: „Wenn wir weitermachen wie bisher“, wettert sie mit erhobenen Zeigefingern, „ist in 50 Jahren die Welt so heiß, dass man in einem Gürtel von Brasilien über Afrika und Indien bis Nordaustralien nicht mehr leben kann.“
Echt jetzt? „Ich glaube, dass dieses ständige Gerede vom Weltuntergang durch Klima totaler Quatsch ist“, kontert Aust. „Wir könnten in Deutschland alles abschalten, wir könnten aufhören zu atmen, und es würde sich in der Welt nicht gravierend etwas ändern. Es ist eine totale Illusion.“ Uff!
Cleverster Konter
Finanzminister Lindner wird mit Vorhaltungen begrüßt: „Vier Landtagswahlen sind für die FDP nicht gut ausgegangen“, diagnostiziert die Talkmasterin. „Zweimal aus der Regierung rausgeflogen, zweimal aus dem Landtag rausgeflogen…“
„Meine Prioritätensetzung ist, dass jetzt zunächst einmal für das Land Gutes bewirkt werden muss“, murrt der Minister. „Ich habe nicht den Eindruck, dass die Menschen sich jeden Tag fragen, wie geht‘s eigentlich der FDP?“
Schmalllippigste Reaktion
Maischberger heizt ihm trotzdem weiter ein: „Aber Sie sind schon einverstanden, dass man fragt, wem vertrauen die Menschen die Führung eines Landes in diesen Krisenzeiten an?“
Doch Lindner wählt eine echt lakonische Erwiderung: „Zur Sache!“ knurrt er nur. Peng!
Grimmigste Gegenattacke
Zur teils gefeierten, teils ausgebuhten Basta-Premiere zitiert Maischberger einen Verdacht des Oppositionschefs: „Friedrich Merz sagt, im Prinzip hätten Sie sich vorher abgesprochen. Wann haben Sie sich denn verabredet?“
„Aus internen Gesprächen in einem sehr kleinen Kreis will ich öffentlich jetzt nicht etwas darlegen“, antwortet der Minister vergrätzt. „Ich würde mir aber wünschen, dass gerade Friedrich Merz in energiepolitischer Hinsicht etwas mehr Demut zeigen würde.“ Rumms!
Vergesslichster Vorwurf
Denn, so Lindner weiter: „Die massive Abhängigkeit von russischen Energieimporten verdankt sich den sechzehn Jahren Politik von Angela Merkel!“
Wie bitte? War Merz nicht Merkels größter Gegner in der CDU? Und saß beim nicht nur energiepolitisch desaströsen Atomausstieg 2011 nicht auch Lindners FDP am Kabinettstisch?
Nachhaltigstes Fragen-Fracking
Als sich Maischbergers nach Lindners Erklärung vom September erkundigt, er würde sicherheitshalber Brennstäbe auf Vorrat beschaffen, sagt der Minister pikiert: „Ich verstehe Ihre journalistische Einladung, dass ich jetzt diesen Streit fortsetzen und die Grünen durch weitere Forderungen quälen soll. Ich werde diese Einladung nicht annehmen.“ Ui!
Als die Talkmasterin trotzdem nachbohrt, kündigt der Minister an: „Diese Diskussion, die wir jetzt geführt haben, möchte ich nicht ein zweites Mal erleben.“ Seine Gegenmittel seien Energieimporte (Flüssiggas und grünen Wasserstoff), Ausbau der Erneuerbaren, alle Kohlekraftwerke ans Netz und Atomstrom aus Frankreich. Na dann viel Glück!
Gretchenfrage des Abends
Maischberger gibt immer noch keine Ruhe: „Können Sie ausschließen, dass wir im April noch einmal vor derselben (Akw-)Frage stehen?“
„Meine Grundüberzeugung hat sich ja nicht verändert“, antwortet Lindner. „Wenn ich alleine hätte entscheiden können, hätten wir neue Brennstäbe hingestellt, würden sie im nächsten Winter benutzen oder, wenn wir sie nicht brauchen, verkaufen.“
Sein ironischer Schlusspunkt: „Aber es ist eine beklagenswerte Tatsache, dass die FDP die absolute Mehrheit verfehlt hat!“
Krachendstes Beispiel
„Ich möchte alles dafür tun, dass wir mit dieser Entscheidung jetzt gut in die Zukunft kommen“, verspricht der Minister dann. „Ich habe aus dem Rallyesport gelernt: Man muss immer dahin schauen, wo man hinkommen will. Und wer in die Leitplanke schaut…“
Lindners mutigstes Bekenntnis: „Ich sehe mich als Interessenvertreter der Steuerzahler in Deutschland. Aber die Wähler dürfen gern einen anderen wählen, wenn sie glauben, der geht besser mit ihrem Geld um.“ Heidewitzka!
Aktuellstes Lagebild
„In Cherson gibt es gerade Funkstille bei den ukrainischen Bodentruppen“, meldet Analystin Berlin aus der Südukraine. „Das ist taktisch korrekt. Sie haben eine große Gegenoffensive im Laufen. Wir werden in den kommenden Tagen immer mehr hören. Im Hintergrund heißt es: Es läuft gut!“
Ihre Einschätzung: „Selbst wenn die Russen mehr Soldaten und Waffen haben: Sie sind taktisch und disziplinär völlig durcheinander.“ Aber: „Die Angst ist Putins größte Waffe. Deswegen bombardiert er die Städte und zielt auf die zivile Infrastruktur.“
Energischster Brustton
Mit Grüne-Chef Nouripour kehrt der Talk zum Kanzler-Basta zurück. „Wir gehen fest davon aus, dass wir im kommenden Jahr deutlich mehr Zeit haben, uns auf den Winter vorzubereiten“, erklärt er hoffnungsvoll. „Es geht nicht darum, dass die Akws 2024 gebraucht werden!“
„Das Land zuerst, und die Energieversorgung zuerst!“, gelobt er. Das jetzt ebenfalls wieder heftig diskutierte Fracking wiederum „greift frühestens in fünf Jahren, und bis dahin sind wir hoffentlich über den Berg.“ …
Schlimmste Erinnerung
Eingeladen ist Nouripour heute aber vor allem als Iraner, denn er ist wie Bürgermeisterin Eskandari-Grünberg in Teheran geboren. Mit 13 Jahren flüchtete er. Sei Onkel wurde im gleichen Evin-Gefängnis hingerichtet, in dem jetzt der Aufstand verzweifelter Häftlinge ausbrach.
„Er hatte Flyer verteilt“, erzählt der Parteichef sichtlich bewegt. „Ich war sechs. Wir waren die ganze Nacht vor dem Gefängnis. Und er ist dieser Nacht hingerichtet worden.“
Noch grausamer: Im Krieg gegen Saddam Hussein seien, so Nouripour weiter, „alle Jungs eingezogen worden. Man hat ihnen Schlüssel um den Hals gehängt und gesagt: Renn über das Minenfeld! Der Schlüssel war für das Tor zum Paradies…“
Ergreifendster Appell
Eskandari-Grünberg brachte im Evin-Gefängnis eine Tochter zur Welt, die Schauspielerin Maryam Zaree. „Ich war siebzehn“, schildert die Bürgermeisterin. „In der Zelle waren 70 Mädchen auf 70 Quadratmetern. Monatelang trugen wir Augenbinden.“
„Eine Frau auf Hafturlaub hat mir einen bewegenden Satz gesagt“, berichtet Nouripour zu Schluss. „Könnt ihr wenigstens dafür sorgen, dass die Kinder derjenigen, die unsere Kinder ermorden, nicht in St.Tropez am Meer Party machen?“ Und das ist wirklich das Mindeste!
Zitat des Abends
„Ich nehme mich nicht so ernst wie die Sache.“ Christian Lindner über sein Erfolgsrezept
Fazit
Abruptes Ende der Grünphase, Chaos auf der Konfliktfläche, die Leitzentrale an der Leistungsgrenze und die Talkmasterin als Verkehrsposten: Das war eine Talkshow der Kategorie „Ampelflattern“.