In einem neuen Buch provoziert der US-Autor Walter Isaacson (68) die Kunstwelt mit Antworten auf eine verstörende Frage: Wie alt war der Bauernsohn Gian Giacomo Caprotti aus dem Dorf Orena bei Florenz, als er bei Leonardo da Vinci als Bediensteter einzog? War er seinem Herrn auch sexuell zu Diensten, und wenn ja, seit wann?
War der geniale Schöpfer der „Mona Lisa“ etwa ein Kinderschänder? Die Diskussion passt perfekt in eine Zeit, die immer mehr Vergangenes neu in Frage stellt: Trägt die Berliner Mohrenstraße einen rassistischen Namen? Darf die Flagge der US-Südstaaten weiter wehen, obwohl unter ihr einst Sklavenhalter kämpften? Ist Kolumbus ein großer Entdecker oder nur der Wegbereiter einer massenmörderischen Kolonisation?
Die Lovestory um Leonardo und Salai ist dabei nicht ganz neu: Der Maler hat auch mit anderen Schülern Sex. Damals schlafen Meister und Gesellen oft zu mehreren in gleichem Bett. Doch wie alt ist der schöne Jüngling wirklich, als sein Meister ihn zu seinem Geliebten macht?
Die grandiosen Leistungen des Universalgenies als Maler, Architekt, Ingenieur und Philosoph füllen Bibliotheken. Über Leonardos Privatleben dagegen ist nur wenig bekannt.
Autor Isaacson hat in der Szene einen Namen: Der Präsident und CEO des Aspen-Instituts war Chef bei CNN und „Time“, wurde 2009 von Obama als Vorsitzender des Broadcasting Board of Governors eingesetzt und schrieb einen Weltbestseller über „Apple“-Gründer Steve Jobs.
Schon frühere Autoren führte eine frivole Zeichnung im Skizzenbuch Leonardos auf dunkle Pfade: Ein großer, erigierter Penis auf zwei Beinen nähert sich einer Öffnung. Darüber ein Name: „Salai“.
„Giacomo zog am Magdalenentag (22. Juli) 1490 zu mir“, schreibt Leonardo über den späteren Geliebten. Der Künstler ist damals 38 Jahre alt. Vater Caprotti hat Leonardos Weingut gepachtet. Und der kleine Junge ist damals zehn Jahre alt.
„Hübsch und träge, mit Engelslocken und einem teuflischen Grinsen“, schildert Autor Isaacson den kleinen „Schlingel“. Leonardo gibt dem Knaben denn auch gleich den Kosenamen, der so viel wie „Teufelchen“ bedeutet, und verewigt die „Anmut und Schönheit“ in Dutzenden Zeichnungen und Notizbuchskizzen.
Die sexuelle Beziehung zwischen den beiden lässt der Roman eines Schriftstellers aus jener Zeit ahnen. „Triebst du mit ihm vielleicht, was den Florentinern so gut gefällt, das Spiel von hinten?“ wird Leonardo darin gefragt. Antwort des Malers: „Und wie oft! Bedenke, er war ein wunderschöner Junge, höchlich mit fünfzehn Jahren!“
Der Dialog ist erfunden, aber, so Isaacson jetzt, „vielleicht ein Hinweis auf den Zeitpunkt, zu dem ihre Beziehung sexuell wurde“. Heute käme Leonardo dafür womöglich ins Gefängnis: Sex von Erwachsenen mit Jugendlichen unter 16 Jahren ist strafbar, zumal wenn eine Abhängigkeit besteht.
In diesem Fall war allerdings wohl eher der Maler abhängig: Immer wieder wird Leonardo von seinem süßen „Teufelchen“ belogen und beklaut. Und immer wieder verzeiht er dem Unverbesserlichen. Zum Schluss vererbt er sogar das Weingut.
Andere verzeihen dem „Teufelchen“ nicht so schnell. Der verräterische Penis auf zwei Beinen in Leonardos Notizbuch stammt, so Isaacson, gar nicht von dem Meister selbst, sondern von einem anderen, wohl ziemlich eifersüchtigen Schüler.
Kann man Leonardo heute trotzdem immer noch als genialen Künstler feiern? Solange echte Beweise für Kindersex fehlen, muss auch für ihn die Unschuldsvermutung gelten.