„Hart aber fair:. Hauptsache friedlich und warm: Scheut Deutschland klare Kante gegen Putin?“ ARD, Montag, 14.Februar 2022, 23 Uhr.
Der Kanzler zwischen Kiew und Kreml im Krieg der Worte und Nerven! Frank Plasbergs Gäste:
Michael Roth (51, SPD). Der Chef des Auswärtigen Ausschusses glaubt: „Nur mit Dialog und Wehrhaftigkeit lässt sich ein Krieg verhindern!“
Norbert Röttgen (56, CDU). Der Außenpolitiker fordert, der Kanzler solle Putin klar machen, dass Russland mit einem Krieg viel „mehr als nur Nordstream 2“ verlieren würde.
Sarah Pagung (33). Die Russland-Expertin kritisiert: „Die deutsche Außenpolitik setzt schon zu lange nur auf Dialog und Wirtschaft“.
Mariam Lau (60). Die Journalistin („Zeit“) fordert: „Wir müssen den Ukrainern helfen, auch militärisch!“
Vassili Golod (31). Der deutsch-ukrainische ARD-Podcaster meldet: „In Russland sehen viele die NATO als Bedrohung – auch meine Verwandten!“
Ist das womöglich der letzte Vorkriegstalk? Ein binnendeutsches Parteiengezänk kann sich jetzt jedenfalls niemand mehr leisten.
Schlüssigste Analyse
Röttgen sieht nicht nur die Ukraine, sondern auch den Aggressor unter Druck. „Putin ist absolut entschlossen, die politische Landkarte Europas zu verändern“, erklärt er, „und er will gleichzeitig die Macht im Inneren sichern.“
Das Problem des Kremlchefs, so Röttgen: „Er sieht, dass die Zeit gegen ihn läuft. Die Sehnsucht nach Freiheit in Kasachstan, Belarus, der Ukraine, Georgien, Moldau – wenn sich das Bahn bricht, ist es eine Frage der Zeit, dass auch die Russen sagen: Warum sind wir die einzigen, die das nicht haben?“
Hoffnungsvollste Einschätzungen
„Ich glaube, dass Putin jetzt gerade erlebt, dass seine Aggression den Westen zusammenschweißt“, meint die „Zeit“-Journalistin.
„Die russische Bevölkerung hat keine Lust auf Krieg, keine Lust darauf, Ukrainer zu töten“, assistiert Röttgen. Es wäre ein „großen Risiko“, wenn der Konflikt zu toten russischen Soldaten führen würde, denn das könne sogar „die Macht Putins gefährden“.
Persönlichste Lagebeschreibung
Podcaster Golod hat Familie in Russland, der Ukraine und auch auf der Krim. „Wer Putin kritisiert, gilt als unpatriotisch“, stellt er fest. „Für meinen Opa existiert immer noch die Großmacht Sowjetunion.“
Mit einer bewaffneten Auseinandersetzung rechnen seine Leute in beiden Ländern nicht, meint der Journalist. Sein prägnanter Vergleich: Russland sei für die Ukrainer so etwas wie ein „toxischer Ex-Partner, der nicht einsieht, dass die Beziehung vorbei ist“.
Verheerendste Bilanz
„Putin hat kaputtgemacht, was zusammengehört“, meint Roth. „Er hat Gesellschaften gespalten, die multiethnisch viele Jahre zusammengelebt hatten.“
Und, so der SPD-Politiker weiter: „Putin hat der NATO eine Frischzellenkur verordnet. Seine größte Angst geht nicht von NATO-Soldaten in Polen oder dem Baltikum aus, sondern von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Er hat Angst, dass dieser Geist auf Russland übergreift, weil das seine Macht, die Macht der Oligarchen, zerstören würde.“
Beklemmendste Vision
„Der ukrainische Präsident steht auf einer Eischolle, die langsam schmilzt“, schildert Lau. „Er musste einräumen, dass 30 ukrainische Oligarchen das Land verlassen haben. Durch die Seeblockade gerät die Ukraine wirtschaftlich in sehr tiefes Gras.“
Golod hält Tröstliches dagegen: Die jungen Leute dächten anders als die Opas oder Onkel in seiner Familie. Denn: „Das ist eine Generation, die weniger die Propaganda des Staatsfernsehens konsumiert, die viel mehr im Internet unterwegs ist, auf Instagram, auch auf Netflix.“
Verblüffendstes Szenario
Und weiter über Russlands Next Generation: „Die folgen den Töchtern der Oligarchen und des politischen Apparats der Kreml-Regierung und sehen: Mensch, die leben ja alle in Europa, gehen dort auf die tollsten Universitäten!“
Und: „Sie sehen dann am Wochenende, wie der Papa Pressesprecher vorbeikommt und mit seiner Tochter in Spanien auf einer Jacht unterwegs ist.“
Die Folgen: „Die sehen einerseits, dass diese Realität, die ihnen im Fernsehen erzählt wird, wie toll Russland ist, anders gelebt wird von den Menschen, die das erzählen. Und sie sehen durchaus, dass diese Freiheiten etwas Spannendes sind und etwas, was sie sich für ihr Land auch wünschen.“
Privateste Erkundigung
Plasberg hat eine „Frage aus anekdotischer Betroffenheit“: „Wenn ich beim Skilaufen in Österreich Russen treffen, wenn ich im Türkei-Urlaub Russen treffe, wie stehen die zu Putin?“
„Das kann man nicht über einen Kamm scheren“, antwortet Golod, aber: „Es gibt einen positiven Blick auf den Westen. Wenn ich mir die Zivilgesellschaft anschaue, ist immer der große Traum: Europa! Es gab sogar Renovierungsmodelle, die hießen ‚Ich renoviere meine Wohnung im europäischen Stil‘.“
Weitsichtigste Warnung
„In unserer Zuschauerpost gibt es einen Tenor: Was geht uns eigentlich die Ukraine an? Mit der haben wir nichts am Hut!“, berichtet der Talkmaster bedrückt.
Lau findet das „shocking“, denn die Ukrainer „sind meine Nachbarn, die ihr Selbstbestimmungsrecht wahrnehmen wollen! Die werden seit acht Jahren belagert und haben eine Waffe an der Stirn!“
Salomonischstes Statement
„95 Prozent der Schreiben, der Emails, die mich erreichen, haben ungefähr diesen Tenor“, bestätigt Roth besorgt.
„Der Bundespräsident äußert sich klarer zu diesem Thema als der Bundeskanzler“, wundert sich Golod.
„Ich freue mich darüber, einen solchen Bundespräsidenten zu haben“, lobt Roth, „und ich freue mich, dass auch der Bundeskanzler deutliche Worte gefunden hat.“
Ehrlichste Selbstkritik
Aber, so der SPD-Politiker weiter: „Ich mache uns zum Vorwurf, dass es uns an Empathie für das östliche Europa mangelt Sonst würde ja die ständige Putinsche Propaganda nicht verfangen.“
Sein Gegenmittel: „Go east! Wir alle müssen uns fragen: Was können wir dazu beitragen, dass wir ein bisschen mehr Mitgefühl entwickeln für das, was sich dort abspielt.“
Interessantestes Sowohl-als-auch
Die Ukraine könne sich „darauf verlassen, dass Deutschland dieses geschundene Land weiterhin massiv unterstützt, wirtschaftlich und politisch“, beteuert Roth. „Und dass wir selbstverständlich auch das Verteidigungs- und Schutzbedürfnis dieses Landes respektieren.“
In der Frage der Waffenlieferung teile er die ablehnende Haltung der Regierung, aber: „Sie sehen hier jemanden, der auch zweifelt. Ich respektiere auch diejenigen, die sagen: Man kann in dieser dramatischen Lage für die Ukrainer auch verantworten, Waffen zu liefern.“
Wichtigster Punkt
„Wir haben eine besondere Verantwortung im Rahmen des Normandie-Formats Ukraine, Russland, Deutschland, Frankreich“, erklärt der SPD-Politiker dazu. „Ich finde, dass man aus dieser Rolle verantworten kann, die Ukraine breit zu unterstützen, aber eben nicht mit tödlichen Waffen.“
Die anderen sind nicht dieser Meinung: „Deutschland sollte Waffen liefern!“, fordert Golod. Lau denkt an militärisches Material „unterhalb der Schwelle von tödlichen Waffen“. Russland-Expertin Pagung ist für Waffenlieferungen, doch dafür sei es bereits zu spät.
Amüsantester Gender-Eifer
Im nächsten Einspieler zeigt Plasberg Putins 100-Millionen-Euro-Jacht auf der hastigen Rückreise von einer Hamburger Werft nach Russland. O-Ton: „Die neuen Fenster sind noch mit Schutzfolie überzogen, und an der Bordwand sind Reste von Klebeband zu sehen.“
„Klingt ein bisschen wie eine Seeräuberpistole, ist aber recherchiert“, erläutert Plasberg.
„Es steht ja schon zur Debatte, dass bei einer russischen Invasion auch Putin selbst mit Sanktionen belegt wird“, erklärt Journalistin Pagung. Immobilien dagegen könne man nicht einfach wegfahren, und das gelte für Besitztümer von „Putin selber oder auch russischen Oligarchen und Oligarchinnen“. Heidewitzka! Immer diese Oligarchinnen!
Deutlichste Drohung
„Die Konsequenzen sind sehr, sehr schmerzhaft für das Umfeld von Herrn Putin“, kündigt Roth an, „für die Oligarchen, für diejenigen, die mit Putin sehr reich und mächtig geworden sind!“
„Das liegt daran, dass wir in Russland eine grassierende Korruption haben“, weiß Pagung, „und das ist kein Fehler im System, sondern das ist das System!“
Schwärzester Vergleich
Golod nimmt Olaf Scholz aufs Korn. In der Ukraine höre man den Vorwurf: Euer Kanzler schafft es nicht, die Worte „Nordstream 2“ in den Mund zu nehmen. Das sei ein bisschen wie bei „Harry Potters“ Lord Voldemort, man traut sich nicht, es auszusprechen. Das werde sehr oft als Schwäche, als fehlende Haltung ausgelegt.
„Was ist so schwierig daran, den Satz in den Mund zu nehmen?“, spottet Plasberg. „Nordstream ist ein Fremdwort, das kann Scholz aber!“
Halbgarste Ansage
„Es ist klar, dass Nordstream 2 derzeit überhaupt keinen Beitrag dazu leistet, die Energieversorgung in Deutschland zu verbessern“, schwurbelt Roth, „weil noch kein einziger Kubikmeter Gas nach Deutschland gekommen ist. Da muss man auch ehrlich mit den Menschen sein.“ Ja klar…
Seine Position: „Wenn man weiß, dass der Fanblock für Nordstream 2 in Europa sehr begrenzt ist, und dass es in den USA überhaupt keinen Fanblock für Nordstream 2 gibt, dann dürfte klar sein, dass im Falle eines Falles auch dieses Projekt auf dem Tisch liegt und keine Zukunft haben wird.“ Amen!
Fazit
Unter Druck wird immer viel herumgedruckst, hier aber kam noch jede Menge Politgeschwurbel dazu. Das war eine Talkshow der Kategorie Karl Valentin: „Mögen täten wir schon wollen, aber dürfen haben wir uns nicht getraut.“