„Maybrit Illner: Krisengipfel gegen Putin – wie lange hält der Westen durch?“ ZDF, Donnerstag, 30.Juni 2022, 22.15 Uhr.
Die russische Feuerwalze rollt immer weiter voran, die Ukrainer rufen immer verzweifelter nach schweren Waffen, die Deutschen zoffen sich um die letzten drei Monate Atomstrom und Maybrit Illner bekommt allmählich kalte Füße. Ihre Gäste:
Jens Stoltenberg (63). Der Nato- Generalsekretär, als Top-Gast angekündigt, gab der Talkmasterin vorab ein Interview vom Gipfel im Madrid.
Manfred Weber (49, CSU). Der Chef der EVP im Europaparlament sprang in Dresden für Markus Söder ein, denn der Ministerpräsident, beim G7-Gipfel Gastgeber der Herzen in seiner Voralpenidylle, sagte zwei Stunden vor der Illner-Show ab: Terminprobleme!
Omid Nouripour (47, Grüne). Der Parteichef twitterte: „Der Gipfel muss jetzt glasklare Zeichen der Geschlossenheit gegenüber Russland zeigen!“
Stefanie Babst (58). Die Ex-Chefstrategin der Nato analysiert, Putin habe die Ukraine von drei Seiten eingekreist und wolle sie jetzt „wie eine Boa Constrictor erwürgen“.
Prof. Nicole Deitelhoff (48). Die Konfliktforscherin mahnt: „Jetzt geht es darum, zu verhindern, dass Russland mit seinen Zielen durchkommt.“ Sie wird aus Frankfurt zugeschaltet.
Claus Kleber (66). Der Ex-ZDF-Moderator („heute-Journal“) war früher mal in Washington und sorgt sich um die Demokratie in den USA. Er kommt aus Hamburg auf den Schirm.
Nur zwei Gäste am Tisch, drei zugeschaltet, einer als Konserve, das ist schon fast feldmäßig. Das Zoff-o-Meter hofft auf gutes Zusammenwirken auf dem digitalisierten Wortgefechtsfeld!
Dickstes Lob
Der Nato-Generalsekretär startet mit ungewohnten Komplimenten für die Berliner Bündnispartner durch: „Deutschland führt hier vorbildlich, weil es gesagt hat, dass es eine besondere Brigade stellen wird, um auch das Baltikum zu verteidigen.“
„Was wir jetzt in der Ukraine erleben, ist eine sehr gefährliche Situation“, fügt Stoltenberg hinzu. „Wir sehen Leiden, wir sehen Tod, wir sehen getötete Zivilisten, die Bombardierung von Schulen und Krankenhäusern. Es sind die Ukrainer, die jetzt den höchsten Preis zahlen müssen!“
Wichtigstes Versprechen
Zur Ankündigung Spaniens, zehn Leopard-2-Panzer zu schicken, sagt der Generalsekretär: „Das ist eine gute Idee, der Ukraine mehr schwere Waffen zur Verfügung zu stellen. Die Nato wird auch helfen beim Übergang von den alten Gerätschaften der Sowjetzeit zu den modernen Nato-Waffen.“
„Darüber hinaus“, so Stoltenberg weiter, „gibt es eine Unterstützungsgruppe unter Schirmherrschaft der USA, die die ganzen Kapazitäten und Fähigkeiten koordiniert. Die Botschaft ist: Mehr schwere Waffen, mehr Ausrüstung, die schneller geliefert werden muss.“
Gretchenfrage des Abends
Die Talkmasterin zielt unbeirrt auf den neuralgischen Punkt: „Sollten auch Kampfpanzer in die Ukraine geliefert werden?“
Doch darauf reagiert der Generalsekretär mit einem Ausweichmanöver: „Die Bündnispartner liefern ja bereits sehr viele Artilleriepanzer, Fahrzeuge, Schützenpanzer“, antwortet er. „Die Nato trifft keine Entscheidungen über spezifische Waffengattungen.“
Strategischste Ansage
„Wir sollten mehr tun. Mehr Unterstützung für die Ukraine bieten. Mehr Ausrüstung, mehr finanzielle Unterstützung“, fordert Stoltenberg in nordisch kühler Klarheit. „Die Verbündeten liefern ja bereits z.B. Langstreckenartilleriesysteme, Mehrfachraketenwerfer und andere Waffen. Das ist alles beim Gipfel angekündigt worden.“
Seine Prognose: „Dieser Krieg wird wahrscheinlich am Verhandlungstisch enden. Und wir wissen, dass es eine enge Beziehung gibt zwischen dem, was man bei Verhandlungen am Tisch erzielen kann, und der Stärke und der Position auf dem Gefechtsfeld.“
Dringendste Forderung
„Es obliegt der Ukraine, zu sagen, unter welchen Bedingungen sie ein Friedensabkommen unterzeichnen können“, macht Stoltenberg klar und unterstreicht den zentralen Satz mit beschwörenden Handbewegungen. „Unsere Verantwortung ist es, sicherzustellen, dass sie die stärkste Position bei den Verhandlungen bekommen!“
Die östlichen Nato-Partner, so der Generalsekretär am Schluss, „haben Deutschland dafür gelobt, dass es hier wirklich mehr leistet. Zeitenwende als Stichwort. Deutschland hat die Präsenz bereits wesentlich erhöht. Wenn die Welt gefährlicher wird, müssen wir mehr in unsere Sicherheit investieren, und genau das tut Deutschland!“
Überfälligster Alarmruf
Für Grüne-Chef Nouripour ist es „eine Selbstverständlichkeit“, auch Balten und Polen beizustehen, denn „Deutschland ist von Freunden umgeben, aber die Freunde nicht zwingend.“
EVP-Chef Weber setzt noch einen drauf: „Wir sind heute natürlich nicht Kriegspartei, aber wir sind Kriegsziel!“, warnt er. „Putin hasst unsere Art zu leben. Er hasst die Freiheit. Er hasst die Demokratie! Er hat imperiales Denken von vorgestern!“
Parteiischster Dialog
Danach schenkt der CSU-Mann der Konkurrenz schnell noch ein vergiftetes Kompliment ein: „Rot-Grün hat da eine große Lernkurve gemacht!“, lobt er die jüngsten Bundeswehrbeschlüsse.
Nouripour zieht die Mundwinkel in die Merkel-Position und schüttelt grimmig den Kopf, aber den fälligen Konter erledigt die Talkmasterin höchstpersönlich für ihn, mit der Drohung, „auch mal zu zitieren, was Markus Söder irgendwie alles gesagt hat.“ Uff!
Beängstigendste Perspektive
„Die Nato hat nach 2014 ihre Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit gegenüber Russland nachhaltig verstärkt“, analysiert Nato-Babst. „Aber sie ist dann ein Stück weit auf Autopilot geblieben. Sehenden Auges ist man in diese Katastrophe gerutscht!“
Ihre Sorge: „Was Putin jetzt besetzt hat, ist das, was er schon 2008 als ‚Neurussland‘ beschrieben hat. Wenn er dann sagt, er fühle sich in der Tradition Peters des Großen, und führt den Nordischen Krieg an, der 21 Jahre gedauert hat, dann gibt uns das einen Clou über sein Zeitfenster.“ Puh…
Ermutigendste Einschätzung
„Es ist leichter, Gebiet zu verteidigen, als es zurückzuerobern“, mahnt die Konfliktforscherin. „Aber wir haben noch immer keine verlässlichen Zahlen darüber, wie es um die Verluste von Gerät bei den russischen Truppen, um Munitionsverfügbarkeit usw. steht.“
Ihre Hoffnung: „Es kann also auch sein, dass wir in vier bis sechs Wochen erleben werden, dass die Russen massive Nachschubprobleme haben, und sich dann das Blatt wendet, wenn auch mehr Gerät von westlichen Staaten in der Ukraine eintrifft.“
Überzeugteste Prophezeiung
„Kiew – wird – nicht – fallen!“, betont der Grüne-Chef im Stil einer Glaubenswahrheit. „Wir sollten dem auch nicht das Wort reden, sondern alles tun, damit die Ukrainer gewinnen. Und gewinnen heißt, dass sie ihre Freiheit, ihre Souveränität und ihre Würde zurückerlangen.“ Punkt!
Nouripours Vorhersage: „Das wird ein ganz, ganz langer Kampf sein. Auch wenn die Waffen schweigen, ist nicht Frieden eingekehrt. Wir werden nicht auch nur einen Quadratzentimeter durch Russland annektierten Boden anerkennen können. Wir stehen am Anfang eines Marathons.“
Klarste Kante
„Das Endziel kann nur darin bestehen, das Territorium der Ukraine wirklich in Gänze zu befreien“, mahnt die Ex-Chefstrategin an. „Ich möchte nicht den Menschen aus Mariupol, die mittlerweile in Filtrationslagern in Sachalin gelandet sind, erklären, dass wir hier im Westen meinen, es wäre einfacher, sich auf einen Kompromiss einzulassen.“ Rumms!
Verbissenste Abwehrschlacht
Die Talkmasterin kitzelt den Grüne-Chef noch einmal mit der neuen Atomkraftdebatte, und Nouripour haut wie aufgezogen einen Schwall Gegenargumente raus, vor allem zum Thema Sicherheit: „Ich würde gerne hören, ob in der CDU/CSU wirklich die Meinung da ist, wir machen einfach keinen TÜV, 18 Jahre lang!“, poltert er mit wütenden Gesten. Wie bitte? Wegen dreier Monate?
Sein aktualisierter Vorwurf: „Und das in Zeiten, in denen die Welt die Luft anhält, wenn die russischen Streitkräfte in Tschernobyl vorbeifahren! Eine groteske Situation, die nur dazu da ist, damit Herr Söder im Winter sagen kann, das hab‘ ich euch doch gesagt!“
Letztes Gefecht
Doch der CSU-Mann lässt dem Grünen cool die Luft aus dem prallen Empörungsballon: „Ganz Europa geht einen anderen Weg“, stellt er nüchtern fest. „Die Niederländer bauen zwei neue Kernkraftwerke. Frankreich, Tschechien, Polen, alle versuchen, aus der Kohle auszusteigen, und die grüne Regierung steigt jetzt wieder ein!“
Webers dringende Mahnung: „Jetzt müssen wir alles, was wir haben, nutzen können.“ Amen!
Zitat des Abends
„Ich wollte einem Gebot der Fairness folgen, das noch austragen zu lassen, aber das war kein besonders guter Gedanke.“ Maybrit Illner über ihr explosives Atom-Finale
Fazit
Militärexperten gegen Amateurstrategen, Dialoge aus dem Schützengraben, Argumente im Tarnfleck, Aggressionen ohne Sicherung und die Talk-Kommandeuse mit Befehlsausgabe im Casino-Ton: Das war eine Redeschlacht der Kategorie „Kriegskabinett“.