„maischberger. die woche“. ARD, Mittwocxh, 9.März 2022, 23.10 Uhr.
Zeitenwende in Deutschland, keine Kriegswende in der Ukraine: Zwar rollt Putins Feuerwalze langsamer als befürchtet, aber die Opferzahlen steigen weiter. Kann Sandra Maischbergers „Woche“-Talk Hoffnung liefern? Die Gäste:
Joachim Gauck (82). Der Altbundespräsident forderte schon 2014, Europa müsse sich dem russischen Machtstreben entschlossen entgegenstellen.
Katja Petrowskaja (52). Die Schriftstellerin klagt über „Putin-Versteher, die immer irgendwelche taktischen Gründe für weitere Geschäfte haben, obwohl er einfach ein Kriegsverbrecher ist.“
Prof.Carlo Masala (53). Der Militärexperte glaubt: „Die Russen werden nicht in der Lage sein, dieses ganze Land dauerhaft zu besetzen.“
Mariam Lau (60). Die Journalistin („Zeit“) twittert: „Selenskyi ist zu allerhand bereit.“
Markus Feldenkirchen (46). Der Journalist („Spiegel“) mahnt: „Es muss eine Exit-Strategie für Wladimir Putin geben, ansonsten wird es für uns alle brandgefährlich!“
Thomas Roth (70). Der Ex-Chef des ARD-Studios Moskau rätselt, was Putin antreibt: „Leider bin ich kein Psychologe.“
Zeitzeugen, Experten, Beobachter. Wie gehen sie mit den eigenen Irrtümern um? Das Zoff-O-Meter hört genau zu: Wird stur gemerkelt, trickreich gescholzt oder ruchlos weitergeschrödert?
Erschrockenster Kommentar
„Furchtbar! Schrecklich!“ urteilt Roth entsetzt. „Es war in meinem Kopf so nicht vorhanden, obwohl ich Putin viel Schlechtes zugetraut habe. Kinder, Mütter in Kliniken – unfassbar! Da blutet einem das Herz!“
„Putin ist die dunkle Seite dieser Hydra, die da wieder auferstanden ist“, fügt der ARD-Mann fassungslos hinzu. Auch 1999 als Reporter im tschetschenischen Grosny habe er sich „nicht vorstellen können, dass eine Stadt komplett flachbombardiert wird“ wie jetzt in der Ukraine.
Persönlichste Enttäuschung
Über einen Besuch bei Putin im Jahr 2001 erzählt Roth: „Ich wurde eingeladen zu ihm und seiner sehr sympathischen, reizenden Frau Ludmilla. Er war ein überaus charmanter, witziger, hintersinniger Mann. Ich bin fast wie betäubt rausgegangen.“
Folge der Privatvorführung: „Ich habe Jahre gebraucht, um diesen Mann in seiner Skrupellosigkeit und Brutalität lesen zu lernen“, gesteht der ARD-Mann betroffen.
„Putin hat Olaf Scholz praktisch angelogen“, schimpft die „Zeit“-Journalistin. „Die deutsche Regierung braucht immer ein bisschen länger.“
Dem „Spiegel“-Kollegen aber geht es eher darum, dem Kreml-Herrn „nicht das Gefühl zu geben, er sei der neue Kim Jong-un der Weltgeschichte.“ Ja ne, is klar.
Emotionalste Erzählung
Autorin Petrowskaja weiß über ihre Mutter in der Ukraine nur, „dass sie im Bus sitzt und in Richtung Ungarn fährt. Der Bus ist voll mit Säuglingen, der jüngste ist vier Tage alt.“
In ihrer Heimat „kämpft nicht nur die Armee, sondern die ganze Gesellschaft“, berichtet sie bewegt. „Das Wort ‚fliehen‘ wird nicht benutzt.“
Unrealistischstes Lagebild
„Die militärische Operation war darauf ausgerichtet, dass man Kiew und den Osten innerhalb von Tagen einnehmen kann“, stellt Prof.Masala fest. „Dahinter stand die Überzeugung, dass ein Großteil der Ukrainer die Russen als Befreier begrüßen werde.“
Ursache: Die Geheimdienste, so der Militärexperte, hätten Lageberichte liefern müssen, ohne genau zu wissen, wozu. „Diese Berichte waren alle sehr positiv“, erklärt Masala. „Auf dieser Basis traf Putin dann seine Entscheidungen. Und das ist wohl alles erstunken und erlogen gewesen!“
Wichtigste Informationen
„Russland ist es sehr gelungen, uns alle glauben zu lassen, dass das hochmoderne Streitkräfte sind“, urteilt der Experte. „Aber wenn Soldaten Hunger haben, weil sie fünf Tage nichts gegessen haben, sind sie nicht mehr kampfbereit.“
„Russland ist zu Nordkorea geworden“, klagt die Autorin und zeigt ein Handyvideo, das ihre Mutter drehte, um russischen Soldaten und deren Müttern mit der Wahrheit zu impfen. Ihre Warnung: „1968 gab es eine Karikatur über die Tschechoslowakei, da liegt eine tote Frau, und zwei Generäle sagen: Sie hat uns bedroht!“
Düsterste Prognosen
„Eine Flugverbotszone würde bedeuten, einen Krieg gegen Russland zu führen“, macht Prof.Masala der Runde klar. Aber: „Es geht nicht automatisch um den Dritten Weltkrieg, um die Atomwaffen. Das wird nur passieren, wenn Putin sich einer katastrophalen militärischen Niederlage ausgesetzt sieht.“ Puh!
„Putin geht so weit, wie man ihn gehen lässt!“, warnt der alte ARD-Korrespondent.
„Ich glaube, dass Putin jetzt schon in einer Lage ist, wo er nur noch verlieren kann“, urteilt der „Spiegel“-Journalist. „Die Frage ist, wie viele Menschen noch einen Preis für seine Niederlage bezahlen.“
Ungewöhnlichster Vergleich
„Wir brauchen halt jetzt einen Churchill-Moment“, fordert Lau und rudert hoffnungsvoll mit beiden Händen durch die Luft. „Wir brauchen ein richtiges Coming-out von Olaf Scholz, wo immer wieder erklärt wird, worum es geht!“
Feldenkirchen prustet gleich los. „Die Vorstellung von Olaf Scholz als Churchill fand ich erst mal lustig“, rechtfertigt er sich dann. „Da ist auch rhetorisch noch ein bisschen Luft nach oben!“
Misslungenster Rettungsversuch
„Da lacht auch Herr Gauck“, meldet Maischberger nach einem Blick in die Kulisse, wo der Altbundespräsident wartet. „Ich hab’s gehört, Herr Gauck. Ich hab’s genau gehört.“ Heidewitzka!
Dann dreht die Talkmasterin aber gleich einen Salto rückwärts und sagt reuevoll: „Es war unangebracht, dass ich über Olaf Scholz gelacht habe.“ Hier ist ja was los!
Ergreifendster Augenblick
Dann ist Gauck selber dran, begrüßt von einem Einspieler mit der Szene, wie er im Bundestag den ukrainischen Botschafter umarmt. „Das musste sein“, erklärt er nun. „Irgendwie wollte ich ihm etwas sinnlich Wahrnehmbares rüberbringen, was unzählige Menschen in Deutschland gespürt haben.“
Klügster Kommentar
Zum Thema Krieg sagt der Altbundespräsident, perfekt mit Krawatte in den blaugelben ukrainischen Farben gestylt: „Ich habe mir oft Gedanken gemacht über die deutsche Neigung zur schnellen Angst. Wenn es nachvollziehbare Gründe für Ängste gibt, wird das Ganze noch angefeuert.“
Seine Analyse: „Zwar ist es richtig, dass ein letztes Ausrechnen dieses wirrköpfigen Diktators in Moskau nicht möglich ist. Aber er ist noch nicht in der Situation wie Adolf Hitler am Ende des Krieges, wo man denken muss, nach mir die Sintflut. Er will ja als ruhmreiche Person in die russische Geschichte eingehen.“ Uff!
Gewichtigster Lehrsatz
„Putin sieht jetzt auch die Grenzen seiner militärischen Möglichkeiten“, meint Gauck weiter, aber: „Wenn wir davon ausgehen, dass er eine neue, eher imperial geprägte Größe Russlands will,
dann sieht man seine brachialen diktatorischen Absichten. Darum sind seine Nachbarn in großer Gefahr. Er wird sie tributpflichtig machen wollen.“
Sein Credo: „Es ist tugendhaft, kein Feindbild zu haben, aber man darf nicht so blöd sein zu denken, die Feindschaft gibt es nicht mehr!“
Bitterste Erinnerung
„Man muss den Homo sovieticus lesen können“, erklärt Gauck dazu. „Und das ist möglich. Ich denke, dass ich das gelernt habe, unter Schmerzen, als einer, dem man fünfzig Jahre seines Lebens nicht erlaubt hat, seine bürgerlichen Freiheiten zu leben.
„Sie waren elf Jahre alt, 1951, als sie erlebten, dass Ihr Vater in diesem stalinistischen Terror von einem Tag auf den anderem verschwand“, assistiert die Talkmasterin. „Er war insgesamt vier Jahre in einem sibirischen Gulag. Nach zwei Jahren wussten Sie, wo er ist, und er kam zurück.“
Ungeduldigste Unterbrechung
„Nach Stalins Tod wurden Menschen benachrichtigt, die einfach Opfer…“ beginnt der Altbundespräsident, der seine Geschichte gern weitererzählen würde. Doch ausgerechnet jetzt geht der Talkmasterin der journalistische Instinkt flöten. „Das heißt also,“ unterbricht sie ihn grob, „Ihr Verhältnis zur Sowjetunion, das ist ja nicht Russland…“ Schade!
Optimistischste Philosophie
Über die große Hilfsbereitschaft der Deutschen sagt Gauck: „Wir wollen uns selber mögen. Das ist oft so bei helfenden Menschen, dass sie, indem sie sich für andere opfern, auch für das eigene Ich etwas tun. Sie begreifen plötzlich, dass unsere Möglichkeiten größer sind als unsere Rechenkünste.“
Denn, so der Altbundespräsident weiter: „Das Sich-ausrechnen, was nützt mir, ist ein höchst defizitäres Lebensprinzip. Immer dann, wenn Menschen ausbrechen aus dieser Eigenfürsorge, erleben sie auch eine Erweiterung des Ich. Das Leben wird dann schön, obwohl es schwieriger wird!“
Härteste Ansage
Der neuen Generation, so Gauck, sage er: „Liebe junge Leute, die ihr euch jetzt fürchtet: Ihr könnt nicht wissen, was ihr später einmal ertragen werdet. Die Lebenssituationen, in die wir geführt werden, statten uns mitunter auch mit Widerstandskräften aus, die wir heute, ungestört und im Wohlstand lebend, noch gar nicht kennen.“
Seine Überzeugung: „Wir sind stärker, als unsere Angst es uns einredet. Wir können auch mal frieren für die Freiheit. Und wir können auch mal ein paar Jahre lang ertragen, dass wir weniger an Lebensglück und Lebensfreude haben. Wir verfügen über mehr Kräfte, als wir heute, wo wir sie noch nicht brauchen, denken.“
Überzeugendster Mutmacher
„Dass die Möglichkeiten in der Politik endlich sind, das ist eine Binse“, sagt Gauck zum Schluss. Aber: „Ich freue mich über ein Land, das plötzlich aufwacht, plötzlich merkt: Ach so, wir müssen uns auch verteidigen! Was uns lieb und wert ist, das muss man auch verteidigen!“
Sein persönlichstes Lob: „Darüber freue ich mich genauso wie über eine Regierung, die Führungsstärke zeigt und auf den richtigen Weg eingeschwenkt ist.“ Horrido!
Fazit
Knackige Kommentare, ermutigende Erkenntnisse, die alten Zöpfe und Zipfelmützen fielen wie die Blätter im Herbst: Das war eine Talkshow der Kategorie „Frischzellenkur“.