„Maybrit Illner: Zurück ins Leben – mehr Freiheit, weniger Vorsicht?“ ZDF, Donnerstag, 8.Juli 2021, 22.15 Uhr.
Der Virologe Prof. Hendrick Streeck hat in der ZDF-Talkshow Maybrit Illner am Donnerstag heftige Angriffe auf den SPD-Gesundheitspolitiker Prof. Karl Lauterbach gestartet.
Wörtlich sagte der renommierte Wissenschaftler: „Ich finde, Herr Lauterbach, dass Sie zur Spaltung der Gesellschaft beitragen, diese STIKO so zu attackieren!“
Und: „Ich finde es höchst unanständig, wie Sie mir in Interviews unterstellen, dass ich den Lockdown überflüssig fände! Ich habe vier Mal gesagt, dass ich den Lockdown alternativlos finde!“
Das Corona-Virus zündet die nächste Stufe: Delta im Anflug! Die besonders ansteckende Mutante droht uns den Sommer zu versauen. Auch Maybrit Illner wird mulmig. Ihre Gäste:
Der NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) hofft tapfer: „Niedrige Inzidenzen machen bald eine Rückkehr zur Normalität möglich.“
Lauterbach, der beharrlichste Gefahrenmelder der deutschen Pandemiepolitik, fürchtet zu frühe Lockerungen: „Damit wird die Gefahr im Herbst wieder größer!“
Streeck trotzt den aktuellen Tatarenmeldungen: „Ich habe eigentlich nicht so eine Sorge vor den Reiserückkehrern!“
Die Wissenschaftsredakteurin Christina Berndt („SZ“) erwartet „Urlaub ohne Maske, Abstandsregeln und Tests erst im Frühjahr 2022“.
Die Chefreporterin Anna Schmidt (WELT) kritisiert: „Die Verachtung der Freiheit wurde mit Corona salonfähig!“
Profis aus Politik, Wissenschaft, Presse, das volle Programm. Wie gut spielten sie zusammen?
Selbstbewussteste Ansage
Der CDU-Politiker startete mit einer Erfolgsmeldung: „Ich bin der einzigste Minister in Deutschland, der durchgesetzt hat, dass Leute, die aus dem Urlaub wiederkommen, am ersten Arbeitstag beim Arbeitgeber einen negativen Bürgertest vorlegen müssen. Oder in der Firma ein Selbsttest durchgeführt wird, unter Zeugen.“
Untertreibung des Abends
Ihren nächsten Gast stellte Illner mit einer ironischen Lockerungsübung vor: „Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte der SPD, nicht ganz unbekannt aus Funk und Fernsehen.“ Es lachte aber niemand: Das Thema ist zu ernst.
Parteifreundlichste Genossenschelte
Zur Sache zitierte die Talkmasterin Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD): „Wenn alle Menschen in Deutschland ein Impfangebot haben, gibt es rechtlich und politisch keine Rechtfertigung mehr für irgendeine Einschränkung.“
Illners Frage an Lauterbach: „Fallen dann alle Masken?“
„Nein, das wird nicht stattfinden“, rammte der SPD-Gesundheitspolitiker den Parteigenossen ab, „und es ist auch weit von der Realität entfernt! Also Heiko Maas, den ich sehr schätze, schlägt hier eine Boris-Johnson-ähnliche Öffnung vor.“ Rumms!
Unpassendste Anmoderation
Danach beharkten sich Lauterbach und Streek minutenlang über Studienergebnisse. Streeck bat die SZ-Wissenschaftsredakteurin, zu schlichten, die aber schlug sich sofort auf Lauterbachs Seite: Die Impfstoffe würden gegen die neue Delta-Variante „etwas weniger gut“ schützen, warnte sie.
Danach wollte Illner auch die Chefreporterin von der WELT hören. Launige Überleitung der Talkmasterin: „Jetzt können wir mal dazu kommen, in aller Schönheit, im wahrsten Sinne des Wortes, eine geschätzte Kollegin zu begrüßen, Anna Schneider.“ Puh: „in aller Schönheit“! Wenn sich das ein Politiker erlaubt hätte, womöglich sogar einer von der FDP!
Berechtigtster Vorwurf
„Das Werteverhältnis hat sich so stark in Richtung Sicherheit und weg von Freiheit verschoben, dass man gar nicht mehr auf die Idee kommt, für den Rest müsste auch der Einzelne verantwortlich sein“, stellte die WELT-Journalistin beunruhigt fest.
Ihr Credo: „Es ist nicht die Aufgabe des Staates, den Einzelnen gegen seinen Willen zu schützen!“
„Ich finde die Diskussion, die Herr Maas angestoßen hat, sehr gut“, fügte die Journalistin hinzu. „Es ist eigentlich ein Wahnsinn, oder irritierend, wenn dann Jens Spahn kommt und das gleich kassiert und sagt: Das verwirrt nur die Menschen, und wir werden noch sehr lange mit allen Maßnahmen leben müssen!“
Wichtigste Klarstellung
Laumanns Bauch nahm energisch Kontakt mit der Tischplatte auf: Dem Minister schmeckte die Kritik an seinen angeblich „waghalsigen“ Corona-Lockerungen nicht. „Sie können in NRW nicht in ein Kaufhaus gehen, Straßenbahn fahren, in keine Arztpraxis gehen ohne Maske“, verteidigte er seine höchst eigenständige Politik.
Sein Standpunkt: „Wenn die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten entscheiden, dass demnächst wieder Fußballspiele in ganz Deutschland mit 25.000 Leuten möglich sind, dann ist die Dorfkirmes in meinem Heimatdorf auch eine Sache, die gehen muss!“
Ungewöhnlichste Ideen
„Durch die Impfkampagne in NRW ist die Lage nicht einfacher geworden“, schimpfte Lauterbach, selber Impfarzt in Leverkusen. „Das Signal, das jetzt an die jungen Leute gesendet wird, lautet: Die Pandemie ist vorbei!“
Sein Vorschlag: „Wenn man das noch retten will, dann müssen wir den Impfstoff dorthin bringen, wo wir diese Leute treffen: In die Shisha-Bars, die Ausgehmeilen, an die Kölner Ringe, in Hamburg ins Schanzenviertel, in Berlin in den Friedrichshain, mit mobilen Impfteams!“
Moralischster Imperativ
„Wenn es uns als Politikern nicht gelingt, diese Leute zu erreichen, können wir nicht sagen: O.k., die sind selbst schuld!“ warnte Lauterbach.
Denn: „Wenn dann die Delta-Variante durchliefe, und wir hätten viele schwere Fälle in den Kliniken, der eine kriegt keine Luft mehr, oder da ist uns einer gestorben, da kann ich nicht sagen, die Leute hätten sich doch impfen lassen können. Das kann nicht unsere Haltung sein!“
Nervösester Einwand
WELT-Journalistin Schmidt staunte über Drohungen, Impfverweigerer zu bestrafen. „Das ist eine Diskussion, die so deutsch ist!“ wettert sie. „Das gibt’s bei uns in Österreich und in der Schweiz schon gar nicht. Seit wann kontrolliert der Staat den Bürger, und nicht mehr der Bürger den Staat? Mich macht das ganz unruhig!“
Ihre erstaunte Feststellung in eigener Sache: „Ich bin Österreicherin, und ich finde die deutsche Bürokratie trotzdem atemberaubend. Und das sagt sehr viel aus!“
Beängstigendstes Menetekel
„Die gute Nachricht bei 12- bis 16-jährigen ist, dass Gottseidank die ursprünglichen Befürchtungen, dass Kinder ins Krankenhaus müssen – das sind eher seltene Fälle“, gab Lauterbach zu und räumt damit eine seiner umstrittensten Behauptungen locker ab.
Sein großes Aber: „Was sich leider nicht verändert hat, ist die relativ besorgniserregende Situation auch von Kinder bei Long-Covid“, warnt der Gesundheitspolitiker gleich danach. „Zwei bis sieben Prozent haben Konzentrationsschwierigkeiten, Wortfindungsstörungen, Störungen mit der Atmung!“
Seine Forderung: Den Kindern die Impfung anbieten. Denn, so Lauterbach: „Wenn wir es nicht machen, werden wir in den Schulen im Herbst eine massive Durchseuchung mit der Delta-Variante sehen. Dann impfen wir im Prinzip die Kinder durch Durchseuchung!“
Blutgrätsche des Abends
Streecks schärfster Vorwurf: „Damit tragen Sie zur Spaltung bei. Das hat so einen Wahlkampfstil, der in einer Pandemie nicht angebracht ist. Ich bin nicht im Wahlkampf. Ich möchte pragmatische Lösungsvorschläge machen!“
Und, so der Virologe sichtlich sauer: „Das machen Sie nicht zum ersten Mal! Solche Angriffe, und nicht richtig zuzuhören!“ Das gelte auch in anderen Fällen, wie etwa den Lockerungen in NRW: „Das sind differenzierte Aussagen, und Sie machen dann solche brutalen Aussagen daraus!“
Krachendster Konter
„Es ging nicht um Sie!“ schoss Lauterbach zurück. „Ich habe die Stiko kritisiert, und das ist keine Majestätsbeleidigung!“
Sein Prinzip brachte der SPD-Mann dann
etwas oberlehrerhaft rüber: „Wenn mir etwas bei der STIKO gefällt, da lobe ich das, und wo es mir nicht gefällt, kritisiere ich es in der Sache. Und so mache ich es auch mit Ihnen.“ Heidewitzka, Herr Professor! Alle Neune!
Trickreichstes Versöhnungsangebot
Dann aber machte Lauterbach gleich wieder den objektiven Wissenschaftler: „Dort, wo Sie Recht gehabt haben, gebe ich Ihnen Recht“, sagt er etwas gönnerhaft zu Streeck.
„Ich schätze Ihre Qualifikation und Arbeit“, fügte er sogar noch hinzu, zählte dann aber gleich eine ganze Latte von Virologen auf, darunter auch Christian Drosten, die beim Expertenstreit um den Lockdown auf seiner Seite gestanden hätten.
„Da hätten wir uns gefreut, wenn Sie sich angeschlossen hätten“, patzte er Streeck noch einmal an. Uff!
Und weiter Zoff
Streeck war auch nicht faul beim Benennen erstklassiger Experten, die so dächten wie er selbst.
Die SZ-Frau eilte dem SPD-Mann zu Hilfe. Streeck habe damals gefordert, vor allem die Risikogruppen zu schützen, „was nach dem Konsens vieler Wissenschaftler/innen gar nicht möglich ist“, behauptete sie und warf Streeck vor: „Ich finde auch, dass Sie an zu einer Spaltung beigetragen haben.“ Uiuiui!
Verräterischste Info
Der eigentliche Grund für die Keilerei wurde klar, als die SZ-Journalistin dozierte: „Ich glaube, dass das ein Problem der medialen Darstellung war, dass man diese Gegnerschaft (zwischen Streeck und Drosten) aufgebaut hat.“
Und, so SZ-Berndt weiter: „Wenn die Wissenschaft eine klare Sprache spricht, ist es nicht richtig, eine Minderheitenmeinung genauso stark zu werten.“ Sollte heißen: Drosten hatte Recht, und Streeck hätte gar nicht beachtet zu werden brauchen.
Letztes Gefecht
„Das ist von einigen Leitmedien aufgebauscht worden“, meinte Streeck dazu.
„Das war eine richtige Schlacht“ erinnerte sich Illner und nutzte die Gelegenheit zu einer kleinen Stänkerei gegen die Bild-Zeitung: „Das war eine Zeitung mit den großen Buchstaben!“
„Den ‚Spiegel‘, meinen Sie?“ konterte Streeck cool und machte den Punkt. Ging‘s hier eigentlich noch um Viren und Varianten?
Misslungenstes Eigenlob
„Was sagen Sie denen, die sagen, Sie machen zu viel Alarm?“ wollte Illner zum Schluss von Lauterbach wissen.
Der Gesundheitspolitiker wehrte sich: Wo er eine gute Nachricht habe, sage er sie auch. Sein Beispiel: „Ich habe schon im Januar gesagt, der Sommer wird wirklich gut.“
„Ist ja jetzt nicht so“, lachte ihn die Talkmasterin aus. „Dank Delta nicht so ein Knaller-Sommer!“
„Herr Streeck wird das bestätigen“, hoffte Lauterbach, aber der Virologe guckte nur angesäuert zu Seite. Die werden keine Freunde mehr…
Interessante Info-Impfung ohne eitlen Experten-Gestus, aber dann ging leider fast die halbe Sendezeit für nicklige Kabbeleien über Vergangenes drauf. Das war ein Talk der Kategorie „IFD“: Immer feste druff!