„Maybrit Illner: Putins neue Terror-Strategie – Ukraine zerstören, Europa spalten?“ ZDF, Donnerstag, 27.Oktober 2022, 22.15 Uhr.
Der Kriegsverbrecher im Kreml treibt seinen Vernichtungsfeldzug gegen die Zivilbevölkerung immer brutaler voran: Bomben, Lügen, Deportationen. Maybrit Illner schlägt Alarm. Die Gäste:
Katarina Barley (53, SPD). Die Vizepräsidentin des EU-Parlaments bestätigt den Titel des Talks ohne Illners Fragezeichen: „Putin will die EU spalten!“
Sergej Lagodinsky (46, Grüne). Der Europa-Parlamentarier russisch-jüdischer Herkunft twittert: „Es wird der UdSSR-Afghanistan-Krieg x10!“
Liana Fix (35). Die Russland- und Osteuropaexpertin warnt: „Putin steht unter immensem Druck!“
Gustav Gressel (43). Der Militär- und Sicherheitsexperte analysiert: „Die russische Armee ist geschwächt und könnte eine Verschnaufpause bis zum Frühling gebrauchen, bis man ausreichend mobil gemacht hat.“
Alice Bota (42). Die Journalistin („ZEIT“) fragt: „Wenn die russischen Raketen in Hamburg statt in Kiew einschlügen – wie spräche man dann über diesen Krieg?“
Experten aus Politik, Militär und Medien. Wie einig sind sie sich?
Bewegendste Bilder
Gleich der erste ZDF-Einspieler zieht dem Zuschauer die Kuscheldecke vom Sofa. Denn vor rauchenden Hochhaustrümmern steht Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko und klagt: „Die Russen wollen die Infrastruktur zerstören. Sie wollen, dass die Menschen im Winter frieren. Die Russen wollen eine humanitäre Katastrophe in unserer Heimatstadt!“
Die Ukraine sei ohne Hilfe verloren, analysiert Militärexperte Gressel, und wenn die Kosten dafür immer weiter stiegen, könnte ihr tapferer Präsident unter Druck geraten: „Putin baut darauf, dass im Westen jemand auf den Tisch haut und sagt: Selenskij, du musst die Annexion jetzt akzeptieren, oder wir stellen das ein!“
Spöttischster Kommentar
Zu Putins Fake-Vorwurf, die Ukraine baue eine „schmutzige“, weil radioaktiven Bombe, erklärt Gressel, leider hätten westliche Politiker zu dieser Angstmacherei beigetragen: US-Präsident Biden mit seinem Hinweis auf die Kuba-Krise von 1962 „und auch Scholz, der vor dem dritte Weltkrieg warnt.“
Aber: „Natürlich ist die Art und Weise, wie sie das machen, wie sie Fotos fälschen und irgendwas zusammenzimmern, auf dem Niveau von Zwölfjährigen, die sich was googeln“, urteilt der Experte. „Darüber lacht dann auch die Welt“, glaubt die Talkmasterin. Uff!
Nüchternstes Lagebild
„Es ist gerade so gefährlich, weil wir eine Eskalation aus einer Position der Schwäche sehen“, sorgt sich Russlandexpertin Fix. „Putin kann die Front nicht stabilisieren. Deswegen versucht er einen Punkt zu erreichen, an dem die westlichen Unterstützer der Ukrainer sagen. Stopp, das wird uns zu gefährlich!“
Ihre Analyse: „Alles deutet darauf hin, dass das eine psychologische Operation ist, die gegen die westlichen Gesellschaften geführt wird. Trotzdem ist nicht völlig auszuschließen, dass daneben auch der Boden bereitet wird für eine weitere Eskalation.“
Gefährlichstes Erlebnis
Der grüne EU-Abgeordnete geriet in Kiew selbst in einen Luftangriff und erlebte besonders bei jungen Ukrainern „eine Entschlossenheit und eine Entspanntheit, die ich nur bewundern kann.“
Aber, so Lagodinsky weiter: „An diesen Stellen wurden ein paar Minuten später Menschen umgebracht, und uns ist wie auch unseren ukrainischen Freunden klar geworden, was für ein Glück wir hatten, dass wir entwischt sind!“
Drastischste Mahnung
Für Artillerie und Panzer östlicher Bauart werde jetzt die Munition knapp, warnt Militärexperte Gressel dann, denn: „Es gab eine Zeit, da kam jede dritte ukrainische Granate aus Bulgarien, aber die Lager sind auch dort leer.“
Der ukrainische Widerstand könne nicht von der tschechisch-bulgarisch-polnischen Munitionsproduktion abhängig sein, fügt Gressel hinzu, denn „das wäre völlig irrwitzig.“ Für die Nachbeschaffung von Munition und die Neuproduktion etwa von Panzern aber gebe es „viel zu viele politische Blockaden und Unentschlossenheit.“ Rumms!
Beunruhigendste Expertise
Über die Drohung der Russen, den bereits verminten Kachowka-Staudamm zu sprengen, sagt Gressel: „Das ist ein enorm massives Bauwerk. Das ist nicht so wie in den James-Bond-Filmen, in denen der Superheld kommt und den Explosiv-Kaugummi irgendwo anklebt, und alles fliegt in die Luft!“
„Um so etwas vorzubereiten, brauche ich Stunden, um am Damm zu werken“, erläutert der Experte. „Eine Partei, die diesen Damm nicht kontrolliert, kann ihn technisch nicht in die Luft jagen.“
Kontrolliert aber werde Kachowka, so Gressel, zurzeit von den Russen. Heißt: Putin könnte den Damm zwar jederzeit zerstören, aber die Schuld dann aber nicht den Ukrainern zuschieben. Hm – ein schwacher Trost!
Schlappstes Dementi
Die Talkmasterin peilt die EU-Vizepräsidentin an: SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich habe gesagt, „dass die Diplomatie die wichtigste deutsche Disziplin sei und die Außenministerin da endlich auf die Bühne treten soll“. Also verhandeln? Jetzt? Mit Putin?
„Ich habe mich nach dieser Äußerung mit Berlin rückgekoppelt“, versichert die SPD-Politikerin eilig. „Wir haben ständige Gesprächskanäle, und jedenfalls ist es mir so kommuniziert worden, dass das durchaus breiter gemeint ist, als es hier jetzt gemünzt wurde.“
Und wie? „Dass es auch noch Diplomatie rund um die Parteien Russland und die Ukraine gibt“, erläutert Barley, vor allem „China und Indien“. Ah ja.
Zupackendste Kneifzange
Die Talkmasterin kauft ihr das aber nicht ab. Es sei doch „ganz eindeutig“, widerspricht Illner und liest Mützenich im O-Ton vor: „Die Balance zwischen dem Selbstverteidigungsrecht der Ukraine und diplomatischen Initiativen muss endlich hergestellt werden.“
Doch Barley bleibt bei ihrer Version: „Die Position, die wir da haben, ist total klar“, behauptet sie unter den zweifelnden Blicken der anderen Talkgäste. „Und die ist, dass eine diplomatische Bemühung nur dann Sinn macht, wenn es eine Aussicht darauf gibt, dass es auch eine Lösung gibt, die die Ukraine akzeptieren kann, und die gibt es derzeit nicht.“ Ächz!
Offenste Kritik
Lagodinsky ist nicht überzeugt: „Ich finde, dass wir ernsthafte Gespräche führen müssen, wie wir die Kanzlerpartei dazu bringen, eine einheitliche klare Linie zu fahren“, murrt der Grüne. „Denn dieses Hin und her, und ständig Signale, die etwas widersprüchlich sind, beschädigen nicht nur diese Koalition, sondern auch die Europäische Union!“
Sein Ärger richtet sich gegen den Kanzler: „Wir sind in Brüssel als Deutschland unten durch“, wettert Lagodinsky. „Wir brauchen eine Krisenführung, und diese Krisenführung vermisse ich von der höchsten Stelle in unserem Land!“
Schwerwiegendste Vorwürfe
Dann fährt seine Faust durch die Luft: „Wir sind in der schwersten geostrategischen Krise dieses Kontinents!“, grollt der Grüne. „Hier brauchen wir Klarheit, die auch für andere Ländern gelten muss, und auch für Häfen in Hamburg! Wir müssen Abhängigkeiten vermeiden, die wir vermeiden können.“ Kawumm!
Auch die „ZEIT“-Journalistin schießt sich auf Scholz ein: „Dieses Zaghafte, ein bisschen Unverbindliche, immer ein bisschen verklausuliert“, schimpft sie. Bei der Entscheidung etwa, einen Terminal in Hamburg den Chinesen zu überlassen, sei „die große Linie nicht verstanden worden“.
Undiplomatische Erwiderung
Forderungen etwa baltischer EU-Staaten, Deutschland müssen entsprechend seiner Größe nun auch militärisch vorangehen, will Barley mit einer Gegenattacke ausbremsen:
„Das sagt ihr jetzt“, habe sie den Osteuropäern geantwortet, „aber in vielen anderen Punkten, wenn wir nach unserer Größe handeln, kommt ganz schnell gerade aus Polen: Ups, jetzt kommt wieder das Deutschland, das uns erklären will, wie es bei uns zu laufen hat.“ Ihr Ernst?
Peinlichste Wortklauberei
Die Talkmasterin grillt munter weiter, jetzt mit einem Zitat der SPD-Verteidigungsministerin: „Deutschlands Gewicht macht es zu einer Führungsmacht auch im Militärischen“, hat Christine Lambrecht gesagt.
„‘Einer‘“, wiederholt Barley bedeutungsvoll das für sie wichtigste Wort. „‘Einer‘, aber doch nicht alleine! Wir gehen nicht alleine voran, auch nicht bei den Panzerlieferungen!“
Unwürdigster Eiertanz
„Spanien wollte Panzer liefern, und es wurde aus Deutschland unterbunden“, kritisiert die „ZEIT“-Journalistin.
„Natürlich sind wir eine Führungsmacht“, gibt Barley widerstrebend zu, „aber wir sind nicht ‚die Führungsmacht‘, die sich im wahrsten Sine des Wortes an die Speerspitze der Bewegung stellt.“ Heidewitzka!
Schlimmste Erkenntnis
Militärexperte Gressel räumt mit dem Argument auf, dass auch Franzosen, Engländer und Amerikaner Kampfpanzer liefern sollten: Teils sei in diesen Ländern die Produktion längst eingestellt, teils fehle die logistische Infrastruktur. Deshalb seien solche Vorschläge für ihn „hanebüchene Ausreden“.
Der „Leopard“ dagegen sei sofort einsatzbereit, meldet Gressel, und in Polen gebe es sogar schon „die Techniker, die Hallen, das Personal“ für die Wartung. „Man muss ja mittlerweile sagen: Leider hat sich Europa auf einen deutschen Kampfpanzer geeinigt“, ärgert sich der Experte, „denn jetzt ist er ein Hindernis, weil er deutsch ist.“ Stöhn!
Berechtigtste Forderung
„Das humanitäre Gebot ist auch, die besetzten Gebiete der Ukraine zu befreien“, fordert Lagodinsky die SPD-Politikerin auf, „weil, was dort passiert, sind schwerste Menschenrechtsverbrechen. Und das können Sie nur mit Kampfpanzern tun!“
Expertin Fix warnt vor Verhandlungen und einem Waffenstillstand: „Das ist das, was die Russen wollen, weil sie gerade auf der Verliererseite sind“, stellt sie fest. „Sie wollen mit neuem Material ihre Position stärken. Man hat ein halbes Jahr Verhandlungen, die zu nichts führen, Russland stärkt seine Position und fängt im Frühjahr wieder an.“ Puh!
Feierlichste Erklärung
In Barley hat es die ganze Zeit gearbeitet. Jetzt drückt sie den Rücken durch und doziert mit zusammengepressten Fingerspitzen: „Es gibt niemanden in meiner Parteiführung, der möchte…“
Die Talkmasterin errät sofort, was jetzt kommt: „Der möchte, dass man jetzt Friedensverhandlungen…“ spricht sie vor.
„Der möchte“, erklärt die SPD-Politikerin mit hochgezogenen Augenbrauen, „dass man jetzt Friedensverhandlungen mit einem Wladimir Putin führt, für den ganz klar die Bedingung sein wird, dass die Ukraine Teile ihres Territoriums abgibt. Die Bundesregierung spricht da total mit einer Stimme.“ Halleluja!
Zitat des Abends
„Waffenlieferungen sind für uns eine humanitäre Pflicht: Wir retten Menschenleben, wenn wir das tun!“ Sergej Lagodinsky
Fazit
Große Fragen, kleine Antworten, die Experten zeigten neue Perspektiven, doch die Talkmasterin rannte immer wieder gegen parteitaktische Hinhaltelinien an: Das war eine Talkshow der Kategorie „Gummiwand“.