„Anne Will: Niemand soll im Winter frieren oder hungern müssen – Kann die Regierung dieses Versprechen halten?“ ARD, Sonntag, 25.September 2022, 21.45 Uhr.
Kehrt marsch, hüh-hott, heute so, morgen so, rin in die Kartoffeln, raus aus die Kartoffeln: chaotisch wie nie ampelt die Koalition auf den Nerven der Bundesbürger herum. Anne Will stellt die Gretchenfrage. Die Gäste:
Christian Lindner (43, FDP). Der Finanzminister tritt weiter tapfer auf die Schuldenbremse. Droht bald ein Wadenkrampf?
Karl-Josef Laumann (65, CDU). Der NRW-Sozialminister warf dem Bundesfinanzminister vor, bei Steuerentlastung Menschen mit geringen Einkommen zu übersehen.
Prof.Clemens Fuest (54). Der Präsident des ifo-Instituts rechnet mit sinkenden Energiepreisen –langfristig…
Julia Friedrichs (42). Die WDR-Journalistin gibt zu: „Die aktuelle Koalition muss viele Dinge lösen, die wir sträflich vernachlässigt haben.“
Die Hottehüh-Regierung im Dauerstressmodus, und das Teilzeit-Rumpelstilzchen im Kanzleramt wird immer nur dann laut, wenn es gegen die Opposition geht.
Anstoß mit Sofortattacke
Die Talkmasterin kommt ohne Verzug auf den Punkt: „Herr Lindner, Sie haben uns heute Morgen damit überrascht, dass Sie die Gasumlage jetzt offensichtlich doch nicht wollen. Was ist passiert, dass Ihnen über Nacht einfällt, dass die Gaspreisumlage den Gaspreis teurer machen wird?“
„Nicht über Nacht, sondern schon vor einiger Zeit habe ich in meinem Ministerium einen Arbeitsstab eingerichtet unter dem Titel ‚Gaspreisbremse‘“, verteidigt sich der Minister. Die Bundesregierung wiederum habe „schon vor einiger Zeit eine Gaspreiskommission eingerichtet“ mit dem Ziel einer sehr schnellen Gaspreisbremse.
Praktikabelste Vorschläge
Dann zählt Lindner an den Fingern auf: „Das eingespeicherte Gas muss in den Markt zurückfließen, dann sinken die Preise. Beim Strom müssen wir Kohle und Kernkraft am Netz halten, das hat einen Preiseffekt. Au europäischer Ebene Maßnahmen wie ein gemeinsam koordinierter Einkauf.“
Sein Ziel: „Entscheidend ist, dass am Ende die Strom-und Gasrechnung für die Menschen nicht ruinös ist. Sie wird steigen, aber die Belastungsspitzen, die wir in diesem und im nächsten Jahr noch sehen, wollen wir überbrücken.“
Elegantester Querpass
Die Talkmasterin peilt ihn scharfen Blickes mittig an: „Ist die Gasumlage damit vom Tisch? Am Mittwoch sollte sie eigentlich beschlossen werden vom Kabinett.“
Antwort des Ministers: „Das kann ich alleine nicht beantworten. Die Federführung liegt da bei meinem Kollegen Robert Habeck.“ Uff!
„Es wird auf mittlere Sicht wieder ein niedrigeres Preisniveau geben“, hofft Lindner dann, aber „ich fürchte, niemals wieder so niedrig wie vor dem Ukraine-Krieg.“
Energischste Absage
„Eine Gaspreisbremse ist für mich kein Anlass, wieder eine Ausnahme von der Schuldenregel im Bundeshaushalt zu machen!“, macht der Minister gleich klar.
Seine Sorge: „Ich werde jeden Tag konfrontiert mit neuen Forderungen, was der Staat alles noch finanzieren soll. Da gibt es Grenzen. Die Schulden, die wir heute machen, müssen ja irgendwann zurückgezahlt werden.“
Cleverster Konter
Will zündelt eifrig an der Koalition, mit einen Zeitungsinterview als Fidibus: „Es ist wochenlang gestritten worden um diese Gasumlage“, mosert sie. „Das jetzt in der ‚Bild am Sonntag’ loszutreten, statt es mit Minister Habeck hinter den Kulissen zu besprechen! Was verspreche Sie sich davon, das öffentlich loszutreten?“
Doch Lindner lässt die Talkmasterin locker abprallen: „Weil der Eindruck entsteht, wir ließen die Menschen mit steigenden Gaspreisen allein und die Gasumlage, die es teurer macht, sei die einzige Antwort, ist es richtig, das jetzt zu korrigieren.“ Rumms!
Faszinierendstes Dreiband-Billard
Will wird langsam sauer: „Am Mittwoch haben Sie noch ein bisschen anders gelungen“, wirft sie dem Minister vor. „Nach der Verstaatlichung von Uniper hatten Sie gesagt, Sie bräuchten eher nicht eine neue Rechtsprüfung der Gasumlage.“
Doch ihr eigener ARD-Einspieler zeigt: Seit Uniper geht es um Grundrechte, und deshalb kann sich Lindner jetzt ganz locker aus der Schusslinie manövrieren.
„Kollege Habeck hat öffentlich das Finanzministerium noch einmal aufgefordert, eine neue Rechtsprüfung zu machen“, lächelt Lindner. „Ich bin aber nicht zuständig. Für verfassungsrechtliche Fragen ist nach der Geschäftsordnung immer das Innenministerium zuständig“, also Nancy Faeser von der SPD. Heidewitzka!
Beklemmendstes Beispiel
WDR-Journalistin Friedrichs verpasst Will einen Nasenstüber: „Es ist nicht die Zeit, jetzt irgendwie hämisch auf so ein Hin und her zu blicken“, weist sie die Talkmasterin zurecht.
„Ich habe eine Postzustellerin begleitet, die arbeitet 35 Stunden die Woche, geht mit 1700 Euro nach Hause“, berichtet die Reporterin dann. „Sie heizt nur noch einen Raum, kann sich unterwegs nie was zu essen kaufen, isst in der Frühstückspause Porridge, weil das so gut nachquillt im Magen.“ Puh!
Berechtigtste Klage
„Die Leute stehen vor dem Herbst und wissen nicht, was passieren wird“, warnt Friedrichs. „Das zieht sich vor allem durch die untere Mittelschicht. Das ist die Gruppe, über die wir ganz, ganz dringend reden müssen.“
Denn, so die Reporterin weiter, „das sind die Menschen, die irgendwo bei 2000 Euro brutto landen, die hart arbeiten, die viel arbeiten und hier den Laden am Laufen halten!“
Härtestes Urteil
„Wir können nicht den Versuch unternehmen, den Gaspreis mit Steuergeldern auf das Niveau des Vorjahres runterzusubventionieren“, macht Lindner klar
„Es ist genau die untere Mittelschicht, bei der die Gefahr besteht, dass sie durch den Rost fällt“, bestätigt Prof. Fuest. „Wir können uns nicht auf die Gaspreisbremse konzentrieren, sondern wir müssen den Strommarkt sehen. Die Gaspreisbremse halte ich für grundfalsch.“
Dramatischste Warnung
„Wir werden die Schuldenbremse nur einhalten können, wenn wir uns wirklich auf das untere Drittel der Einkommen konzentrieren“, fordert auch Laumann. „Das sind die Leute, die 2300, 2400 Euro brutto haben.“
Seine alarmierende Vorhersage: „Wenn wir nichts machen, befürchte ich, dass wir in Deutschland in zwei Jahren keine Bäcker mehr haben. Wenn man heute neue Gasverträge machen müsste, könnte dabei rumkommen, dass wir Brotpreise von sieben, acht Euro kriegen!“
Gereiztester Wortwechsel
Die Talkmasterin kartet noch mal nach: „Sie knüpfen ja an die Gaspreisbremse, so, wie Sie es heute in der ‚Bild am Sonntag‘ erklärt haben, eine Bedingung“, hält sie Lindner vor. „Sie muss mit Maßnahmen wie der Verlängerung der Kernenergie beschlossen werden. Das hat damit nix zu tun, außer dass es Robert Habeck quält. Ist das die Absicht dahinter?“
Jetzt ist aber die Axt am Baum! „Ich würde wirklich bitten, dass wir diese Diskussion etwas ernsthafter führen“, bollert der Finanzminister, „und nicht immer glauben, hier geht’s um zwei Minister, die miteinander ein Problem haben. Da spreche ich auch für Herrn Habeck. Ich wünsche mir da echt ein bisschen Ernsthaftigkeit!“
„Legen Sie die auch an den Tag, Herr Lindner?“, ätzt Will. Uff!
Doch Lindner lässt sich auf diesen Ton nicht ein. „Ja“, erwidert er knapp.
Wichtigste Ankündigungen
„Über eine Strompreisbremse beraten wir gerade“, berichtet der Finanzminister dann. „Die ist auf den Weg gebracht. Da werden wir auch die sehr hohen Gewinne, die bei Wind-, Solar-, Kohle- und Kernenergie anfallen, nutzen, um die Strompreise zu reduzieren.“
Deutschland müsse weiter Kohle – und Atomstrom produzieren, fügt Lindner noch hinzu. Das für Milliarden Steuergelder eingespeicherte Gas wiederum müsse „schnell wieder auf den Markt gebracht werden, um ein Signal zu senden: Im Januar, Februar, März können Stadtwerke von dort Gas erhalten.“
Vernünftigste Forderungen
Prof. Fuest ist mit der geplanten Inflationsprämie von bis zu 3000 Euro unzufrieden. Sein Gegenvorschlag; „Jeder kriegt 1000 Euro, steuerpflichtig, wer mehr verdient, muss die Hälfte wieder zurückgeben.“ Das vermeide Bürokratie und helfe immer den Richtigen.
„Da wurde sehr viel mit heißer Nadel gestrickt und nicht zu Ende gedacht“, kritisiert Laumann und zählt die vielen Entlastungspläne auf. „Liebe Leute, da ist ja schon was angerichtet worden!“ Man könne auch ein anderes System machen, nur: „Es muss am Ende bei den Leuten ankommen, die es brauchen!“
Entschiedenster Widerspruch
Die WDR-Journalistin sucht neue Finanzquellen: Sonderabgabe, Erbschaftssteuer, aber: „Das ist am Ende Ihr Job“, sagt sie zu Lindner.
„Spanien führt jetzt eine Reichensteuer ein“, assistiert die Talkmasterin.
„Eine sehr linke Regierung“, murrt Lindner und zählt Gegenargumente auf. „Deutschland ist bereits ein Höchststeuerland. Steuererhöhungen würden unsere Wettbewerbsfähigkeit massiv verschlechtern. Eine breitflächige Steuererhöhung hat für unser Land einfach eine negative Bilanz.“
Letztes Gefecht
Die Vorschläge der Chefinnen von SPD und Grünen, ein Sondervermögen Energie einzurichten, lehnt Lindner rundheraus ab: Beim Sondervermögen Bundeswehr sei es um langfristige Investitionen gegangen, jetzt aber gehe es um reine Unterstützungsleistungen.
Will hebt streng den Zeigefinger: „Sie haben versprochen, dass niemand hungern soll in diesem Winter“, mahnt sie.
„Und daran fühle ich mich auch gebunden“, bestätigt der Finanzminister. „Niemand soll aus finanziellen Gründen hungern oder frieren.“ Amen!
Zitat des Abends
„Das führt nur zu Steuerflucht.“ Prof. Clemens Fuest über Reichensteuerpläne
Fazit
Hitzige Attacken, trickreiche Defensivaktionen, am härtesten trat die Schiedsrichterin selber zu: Das war eine Talkshow der Kategorie „Vollspann“.