Geschichte

Der zweite Tag der Freiheit

24 Stunden zwischen Glück und Gewalt: Der 10.November 1989

Der Fall der Mauer am 9.November vor 30 Jahren ist für Millionen Deutsche ein Traum. Doch am nächsten Tag droht ein Alptraum: Stasi, NVA und Sowjetarmee halten sich bereit, mit Panzern einzugreifen. Das Protokoll des 10.Novembers zeigt: 24 Stunden entscheiden darüber, ob die Revolution friedlich bleibt.

Um Mitternacht sind die DDR-Grenzer dem Ansturm nicht mehr gewachsen. Sie verlieren völlig die Übersicht. Ungehindert laufen und fahren Tausende West- und Ostberliner durch die Sperren. Die Trabis rollen Stoßstange an Stoßstange in Richtung Freiheit. Der Verkehr bricht völlig zusammen. Der Kudamm wird zur Partymeile. Verwandte, die sich oft Jahre nicht gesehen haben, fallen sich weinend in die Armen. Aber auch Wildfremde halten einander fest, schreien sich ihr Glück in die strahlenden Gesichter. An der Grenze bricht immer wieder überschäumende Freude durch die letzten Ängste, überall knallen Sektkorken. Der RIAS fängt den Jubel ein: „Es ist der Wahnsinn!“ – „Wir können dit jarnich fassen!“

Kurz nach Mitternacht aber löst die NVA für die Berliner Grenzregimenter, etwa 12.000 Soldaten, die Alarmstufe „Erhöhte Gefechtsbereitschaft“ aus. Kompaniechefs und Zugführer eilen zu ihren Einheiten. Soldaten machen Spähpanzer fahrbereit, Kanonen und Granatwerfer gefechtsklar.

Die Feiernden ahnen nichts von der Gefahr. Um 1 Uhr stehen Tausende West- und Ostberliner am Brandenburger Tor. Hunderte klettern auf die Panzermauer, herzen sich und tanzen in der luftigen Höhe.

Doch nicht alle sind fröhlich: „Wir waren total frustriert, geschockt und am Boden“, notiert ein NVA-Offiziersschüler. „Wir fühlten uns absolut im Stich gelassen und waren fassungslos. Für viele war eine Welt zusammengebrochen. Unsere Mauer wurde beschmiert, und Flaschen wurden auf unser Territorium geschmissen!“

Mit Hämmern und Meißeln stürzen sich die ersten „Mauerspechte“ auf den Beton. Kletterer lassen sich auf der anderen Seite hinunter und spazieren lachend über den Pariser Platz. „Fassungslos, verwirrt, aber auch voller Wut“, so der Historiker Hans-Hermann Hartle, beobachten „die Genossen des Grenzregiments-36“ diese „Schändung“ ihres Brandenburger Tores, der „heiligen Kuh der Grenztruppen„.

Um 4 Uhr sind schon 68.000 DDR-Bürger mit 9700 PKW nach West-Berlin ausgereist und 45.000 mit 5200 PKW wieder zurückgekehrt. Provokationen bleiben aus, stattdessen gibt es vereinzelt sogar Sympathiebekundungen für die Uniformierten.

Seit 7 Uhr morgens berichten Rundfunk und Fernsehen pausenlos über die gigantische Berliner Jubelparty. Auch die Reporter wissen nicht, dass der sowjetische Botschafter Kotschemassow ergrimmt Egon Krenz anruft und in barschem Ton verlangt, dass der Generalsekretär sofort ein Telegramm mit Erklärungen an Gorbatschow schickt.

Ein Versuch, am Morgen die Grenze wieder zu schließen, scheitert an einem neuen Massenansturm. In der gesamten DDR Menschen warten Menschen in langen Schlangen vor den Volkspolizeikreisämtern auf Visastempel. Krenz ordnet an, eine „operative Führungsgruppe“ aus leitenden Mitarbeitern der Sicherheitsapparate, des Ministerrates und des ZK-Apparates zu bilden. Um 8 Uhr stellt sie sich die entscheidende Frage: „Setzen wir die Armee ein – ja oder nein?“ Der Chef der Grenztruppen, Generaloberst Klaus-Dieter Baumgarten, sagt klipp und klar: Wenn er rückgängig machen solle, was geschehen sei, müsse er aufmarschieren und schießen lassen. Doch dazu sei er nicht bereit sei.

Kurz vor neun Uhr erobern die DDR-Grenzer die Mauer zurück. „Wir haben alle Personen ganz ohne Gewalt dort runter geschickt“, berichtet der Offiziersschüler. „Dann standen wir bis 15 Uhr auf dieser Mauer, mit dem Gesicht zu den Westberlinern. Und was dann losging, war irgendwie absolute Welle. Einige beschimpften uns total, andere wollten nur wissen, warum wir dort stehen. Die Mädels von Westberlin haben uns teilweise ganz schön angemacht. Wir wurden mit Sarotti-Schokolade und Kaffee eingedeckt, was wir aber natürlich nicht angenommen haben. Das Schlimmste war, dass uns auch einige DDR-Bürger beschimpft haben.“

Im SED-Politbüro herrscht an diesem Morgen, so Günter Schabowski, „Katzenjammer-Stimmung“. Krenz sagt vorwurfsvoll: „Wer hat uns das eingebrockt?“ Schabowski empfindet die Frage als „niederträchtig“. Eine stürmische Schulddiskussion beginnt. Verzweifelte Schreie hallen durch den Saal. „Wir sind belogen worden, die ganze Zeit über! Ich bin erschüttert!“ ruft Karl Kayser, Generalintendant der Städtischen Theater Leipzig. „In mir ist alles zerbrochen! Mein Leben ist zerstört! Ich habe geglaubt an die Partei! So bin ich mit der Muttermilch erzogen worden!“

Immer neue Nachrichten ängstigen die Genossen. Arbeiter in Berlin und Potsdam verlassen in Scharen ihre Betriebe, um sich an den Meldestellen der Volkspolizei für Visa anzustellen. „Es machen sich Panik und Chaos breit!“ warnt Krenz. „Im Parteiaktiv herrscht die Meinung vor: Wir stehen vor dem Ausverkauf!“

Mittags warten DDR-Bürger in langen Schlangen vor Sparkassen, Banken und Ämtern auf ihre 100 DM Begrüßungsgeld. Auf dem Breitscheidplatz stehen Container zur Auszahlung. Viele DDR-Bürger heben ihre Ersparnisse ab und tauschen sie im Westen um, obwohl DDR-Mark nur ein Zehntel der D-Mark wert ist. Ein gewaltiger Kaufrausch bricht aus. In einem Supermarkt steuert eine Abteilungsleiterin fröhlich den Andrang per Megaphon: „Hier werden Sie Ihr Geld los!“

Doch die Gefahr ist noch nicht vorbei – im Gegenteil: Die Situation an der Mauer spitzt sich zu, und es beginnen dramatische Stunden. Nach Rücksprache mit Krenz befiehlt Verteidigungsminister Heinz Keßler „erhöhte Gefechtsbereitschaft“ für die 1. Mot- Schützendivision in Potsdam und das Luftsturmregiment 40 in Lehnitz. Die beiden Eliteeinheiten sind im Stadtkampf ausgebildete und mit modernster Kriegstechnik ausgerüstet.

Am Brandenburger Tor reden Willy Brandt und Walter Momper auf die Menschen ein. Die friedliche Revolution darf nicht in Gewalt umschlagen. Am Bahnhof Friedrichstraße hat ein West-Berliner bereits einen DDR-Kontrolleur mit Fausthieben traktiert.

Bundeskanzler Helmut Kohl hat seinen Besuch in Polen unterbrochen. Um 17 Uhr stimmt er am Schöneberger Rathaus mit Brandt, Momper und Außenminister Hans-Dietrich Genscher vor 40.000 Menschen das Deutschlandlied an. Viele haben Tränen in den Augen, doch 5000 wütende Linksradikale antworten mit einem gellenden Pfeifkonzert.

Um 19 Uhr weist Botschafter Kotschemassows die nervöse Westgruppe der Sowjettruppen an, „zu erstarren und in sich zu gehen“. Damit ist klar: Die 350.000 Russen werden in den Kasernen bleiben. Doch was machen Stasi und NVA?

Am Abend wird die „Brücke der Einheit“ zwischen Berlin und Potsdam nach 28 Jahren wieder geöffnet. Um 20 Uhr sind 100.000 DDR-Bürger über die Grenze gegangen. „Sie werden mit Jubel und Freudentränen empfangen“, berichtet die ARD. Kaufhäuser und Restaurants nehmen DDR-Mark an. Am Brandenburger Tor klettern 400 Übermütige über die Mauer und spazieren über den Pariser Platz. Eine unbewaffnete Postenkette der Grenztruppen versperrt ihnen den Weg nach Ost-Berlin. Die „Tagesschau“ zeigt dramatische Bilder.

Um 23 Uhr schlägt der Jubel plötzlich in Aggression um. Am Brandenburger Tod beschimpfen alkoholisierte Feiernde die DDR-Grenzer und rufen immer lauter: „Die Mauer muss weg!“ Einige machen sich bereits mit Vorschlaghämmern an das gefährliche Werk. Die DDR-Grenzer führen Hunde und Wasserwerfer heran. Zum Glück greift die West-Berliner Polizei rechtzeitig ein. „Wir haben durch Zuruf verhindern können, dass die Wasserwerfer eingesetzt wurden“, berichtet Polizeipräsident Georg Schertz. Später lässt Schertz die Mauer auch von Westen sichern, mit Fahrzeugen und einer Postenkette.

Als der Morgen dämmert, geht die große Party der Freiheit zu Ende. Berlin aber ist in dieser Nacht eine andere Stadt geworden. Die Menschen haben Mauer und Stacheldraht überflüssig gemacht. In manchen Köpfen bleibt die widernatürliche Teilung noch lange bestehen, doch das Herz von Berlin schlägt wieder in einem einzigen, einigen Takt.

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