„Hart aber fair: Grausamer Krieg, offener Ausgang: Was muss geschehen, damit die Ukraine siegen kann?“ ARD, Montag, 11.April 2022, 21 Uhr.
57 Tote durch Raketen auf Flüchtlinge im Bahnhof Kramatorsk. In „Hart aber fair“ fragt Frank Plasberg Journalisten aus dem Kriegsgebiet. Die Gäste:
Christoph Reuter (54). Der Kriegsreporter („Spiegel“) fuhr zum Tatort und war geschockt, „dass eine europäische Regierung eine Rakete mit Splittersprengstoff in einen Bahnhof voller Zivilisten feuert“. Er kommt per Skye aus Kiew auf den Schirm.
Ralf Fücks (70, Grüne). Der Publizist, vor zwei Wochen noch selbst in Kiew, warnt: „Solange sich Deutschland von einer Politik der Furcht leiten lässt, bleibt die Eskalationsdominanz bei Russland.“
Margarete Klein (49). Die Militärexpertin weiß: „Russische Elitetruppen sind für ihre Brutalität berüchtigt. Die ukrainische Armee und Bevölkerung sollen so in Angst und Schrecken versetzt werden.“
Alexander Graf Lambsdorff (55, FDP). Der Fraktionsvize versichert: „Wir wollen die wirtschaftlichen Beziehungen mit Russland so schnell wie möglich beenden. Daran arbeiten wir mit Hochdruck!“.
Petra Pinzler (57). Die Journalistin („Zeit“) meint: „Ein Gas-Embargo schadet uns jetzt deutlich mehr als Putin.“
Einer ist im Kriegsgebiet, der andere war dort, drei Gäste urteilen von hier. Wie groß sind die Unterschiede?
Erschütterndste Einleitung
Kriegsreporter Reuter stimmt die Runde gleich mal mit erbarmungswürdigen Bildern von Fahrten durch die Ukraine ein: „Aus dem Donbass sind uns über eine Länge von 250 Kilometern die Kolonnen der Fliehenden entgegengekommen, eine endlose Reihe von Autos, die Dachgepäckträger bepackt, ernste Gesichter, teils weinende Gesichter…“
Seine schlimme Befürchtung: „Wenn die Offensive beginnt, kann man davon ausgehen: Dann bewegt sich nichts mehr auf dieser Straße.“ Schon jetzt sind mehr als zehn Millionen Flüchtlinge unterwegs.
Aufwühlendste Schilderung
Die Szenen aus einem Einspieler vom Bahnhof Kramatorsk kommentiert der Kriegsreporter sichtlich geschockt: „Ich hätte das für möglich gehalten, wenn der Islamische Staat oder Al Kaida versucht hätten, den größtmöglichen Anschlag zu begehen. Ich habe ähnliche Bilder in Bagdad und in Syrien gesehen.“
Aber, so Reuter entsetzt, „eine Rakete mit einem Splittergefechtskopf, der sich 100 Meter über einem vollbesetzten Bahnhof in tausende kleine Metallfragmente auflöst, die dann die dort unten Wartenden in Stücke schneiden, das habe ich nie gesehen und hätte ich niemals erwartet.“
Erschreckendste Beobachtung
Die Russen hätten die Strecke bereits einen Tag vorher bombardiert, berichtet der Kriegsreporter noch immer schockiert. „Wir fragten uns: Warum? Dann fuhren keine Züge mehr. Einen Tag später haben wir verstanden, warum sie das getan haben: Um die Menge der Wartenden zu vergrößern!“
„Es wirkte nicht so, als ob es einen klaren Befehl gab, sondern als ob die machen können, was sie wollen, weil es keinen Befehl gibt, sich zurückzuhalten“, erklärt der Kriegsreporter die Brutalität der Angreifer. „Weil sie sich rächen wollen, weil sie Hunger haben, eskaliert die Lage, und dann wird so grausam und wirklich flächendeckend gemordet.“
Ernüchterndste Erkenntnis
„Der Widerstandswille der ukrainischen Streitkräfte und auch der ukrainischen Bevölkerung ist nach wie vor groß“, stellt Russland- und Militärexpertin Klein fest. Die Grausamkeiten der Russen seien Teil ihrer psychologischen Kriegsführung, um zwischen Volk und Armee „Keile hineinzutreiben“.
„Wir haben uns in Deutschland daran gewöhnt, immer zu sagen, es gibt keine militärische Lösung“, erinnert Lambsdorff. „Das stimmt nicht. Die Ukraine muss die Russen stoppen. Es muss auf dem Schlachtfeld entschieden werden!“
Drängendste Forderung
Das Wichtigste ist, dass die Ukrainer schnell die Waffen bekommen, die sie brauchen“, meldet sich Reuter, der in seinem Kiewer Hotel ständig gegen Tonstörungen ankämpfen muss und deshalb immer wieder zum Handy greift. Es gehe „um eine Luftabwehr, die funktioniert. Mehr Drohnen. Panzerabwehrraketen.“
„Das klingt alles sehr anachronistisch“, gibt der Kriegsreporter zu, aber: „Die rettende Gegenwehr kann nur sein, dass die Ukraine den Krieg so lange führt, bis die Russen vertrieben sind oder der Preis für Putin so hoch ist, dass er sich um seinen eigenen Verbleib sorgen muss.“
Reuters wichtigster Punkt: „Es muss schnell gehen! Viel schneller, als die Bundesregierung reagiert!“
Schärfste Regierungsschelte
Publizist Fücks verschränkt die Finger wie zu einem Stoßgebet. „Sie sind ein Ur-Grüner“, funkt Plasberg ihn an. „Haben Sie den Eindruck, dass die Bundesregierung so handelt, wie es Herr Reuter darstellt und Herr Lambsdorff ankündigt?
Die Bundesregierung handle „immer nach dem Muster: zu wenig und zu langsam“, klagt Fücks. Er habe „das Gefühl, dass die Dringlichkeit noch nicht wirklich angekommen ist“, auch „angesichts der neuen Offensive, die Russland im Osten vorbereitet. Nachdem der Blitzkrieg gescheitert ist, geht man jetzt zur Materialschlacht über!“
Selbstbezogenstes Bedauern
Die „Zeit“-Journalistin erinnert an die Massendemos von 1983 gegen die Nato: „Die erste Demonstration, zu der ich gegangen bin, war die Hofgartendemonstration in Bonn“, erzählt sie. „Das war gegen die Aufrüstung“, sagt sie noch heute, obwohl es in Wirklichkeit um die nötige Nachrüstung gegen längst einsatzbereite russische Atomraketen ging.
„Ich war immer stolz, in einem Land zu sein, was irgendwie anders auf Kriege und auf diese Welt blickt“, schildert Pinzler. „Wir haben ja gedacht, dass unser Modell, zu versuchen, Konflikte zivil zu lösen, erst mal auf die EU übergeht und dann vielleicht der Rest der Welt sich das auch anschaut.“
Ihre Klage: „Wir sehen im Moment, dass wir aufwachen in einer Welt, die anders ist, und ich erlebe das bei mir mit einem großen Bedauern. Das ist wie ein trauriges Aufwachen.“ Tja. Schade auch. Andere rieben sich schon bei den Kriegen auf dem Balkan, der Krim und in Georgien die Augen.
Klarsichtigste Analyse
„Dieses Zusehen, das ist eigentlich nicht unser Krieg in der Ukraine!“ tadelt Fücks und hebt mahnend den Zeigefinger. „Ich glaube, es ist immer noch nicht wirklich klar, dass die Ukraine auch für uns kämpft, für unsere Sicherheit, für unsere Freiheit. Die Ukrainer sind die Fußsoldaten Europas!“
Lambsdorff lobt sich gekonnt für die Anstrengungen anderer: „Wir sind nicht alleine. Heute haben die Amerikaner erneut Lieferungen von 1,3 Milliarden angekündigt. Warum? Weil wir verstanden haben: Die Ukraine kämpft für die Werte des Westens!“
Seine Sorge: „Die russische Opposition ist tot, geflohen oder im Straflager.“
Dialog des Abends
Die „Zeit“-Journalistin patzt den FDP-Politiker trotzdem an: „Ich sehe ein, dass Sie die Ampel verteidigen müssen. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass wir einen Bundeskanzler haben, der dafür vor vier Wochen mal Worte gefunden hat und seitdem keine mehr.“
Oha! „Ich bin jetzt kein Scholz-Analytiker“, wehrt sich der Lambsdorff, „aber der Bundeskanzler ist ja vom Naturell her jemand, der nicht die Show sucht.“
„Es geht nicht um Show“, kontert Pinzler pikiert.
Doch der FDP-Mann wechselt nun lieber zu Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer, dessen Besuch bei Putin er „nicht besonders schlau“ finde.
„Sie lenken ab“, mahnt ihn die „Zeit“-Frau. „Müssen wir in diesem Land nicht viel mehr darüber reden, in welcher Wirklichkeit wir uns jetzt wiederfinden? Ist das nicht auch Aufgabe eines Regierungschefs?“ Rumms!
Wichtigste Ankündigungen
Zu möglichen Friedensgesprächen verspricht Lambsdorff: „Wir werden nicht über ukrainisches Territorium verhandeln. Man ist in der Ukraine einverstanden mit einem Status als neutrales Land, aber nicht mit territorialen Zugeständnissen. Wir werden nicht Verhandlungen beginnen über den Kopf von Präsident Selenskij.“
„Niemand will mehr wirtschaftliche Beziehungen mit Russland haben“, fügt der FDP-Politiker energisch hinzu. „Die werden, so schnell es geht, auf allen Ebenen eingefroren.“
Geschmeidigste Pirouette
„Wie nennen Sie denn das Abkaufen von Gas?“ fragt Plasberg spitz. „Ist das keine wirtschaftliche Beziehung?“
„Die wollen wir nicht haben“, belehrt Lambsdorff den Talkmaster mit Betonung, „die müssen wir noch eine Weile haben.“ Puh!
Eindringlichste Warnung
„Ich glaube, wir sind gerade dabei, uns in eine Art Katastrophenszenario einzumauern, das uns handlungsunfähig macht“, unkt Fücks. „Wir müssen die Prioritäten neu sortieren. Die Zeit der billigen Energie ist vorbei.“
„Die Ukraine selbst, die angegriffen wird, lässt das russische Gas weiter durch ihr Gebiet laufen, weil sie ihre Verträge einhalten will“, stoppt der Kriegsreporter die Diskussion. „Insofern ist das nicht die drängendste Frage. Die drängendste Frage ist, militärisch zu helfen, so schnell es geht!“
Den, so Reuter: „Den Ukrainern ist diese Gasfrage nicht annähernd so wichtig wie die Frage: Steht Kramatorsk nächste Woche noch? Oder haben wir 10.000 tote Soldaten, weil die Russen es leider geschafft haben, unsere Armee abzuschneiden?“
Letzte Meldung
„Die russischen Soldaten“, erklärt der Kriegsreporter, „teilten mit Putin die Bereitschaft, in die Ukraine zu gehen, aber nicht, um das russische Großreich wiederherzustellen, sondern, um die Waschmaschinen der ukrainischen Anwohner einzusammeln, die Mikrowellen und alles, was man dort plündern kann!“
Das sei „ein vollkommen grotesker Widerspruch zu diesen überbordenden geschichtsphilosophischen Vorstellungen, die man im Kreml liebt“, spottet Reuter dazu.
Sein tröstliches Schlusswort: „In der Ukraine habe ich gesehen, welche wunderbare offene Gemeinschaft hier entstanden ist. Jeder weiß, worum es geht und was er zu tun hat, so dass Selenskij Waffen an die Bevölkerung austeilen kann, während Putin Angst vor einem Wort hat.“
Fazit
Je näher die Front, desto näher die Wahrheit.
Beängstigende Infos und erhellende Kommentare, aber immer wieder auch erbärmliche Windungen und gnadenloses Geschwätz. Aus den Zuschauermeinungen wurden offenbar mit Bedacht die schlaumeierischsten herausgesucht. Das war ein Talk der Kategorie „Kriegsware“.