„Anne Will.“ ARD, Sonntag,27.März 2022, 22 Uhr.
Helmut Kohl und Gerhard Schröder gingen als Kanzler überhaupt nicht in Talkshows, Angela Merkel erst nach vier Amtsjahren (insgesamt fünf Mal). Olaf Scholz aber ist keine vier Monate im Amt und schon zum zweiten Mal Talkgast, erst bei Maybrit Illner, jetzt bei „Anne Will“. TV-Demokratie! Der Gast:
Der Kanzler kommt nicht nur ins Studio, er hat auch das Thema selbst mitformuliert, vor vier Wochen in seiner historischen Bundestagsrede: Das Stichwort heißt „Zeitenwende“. Darf er sich auch bei Anne Will durchscholzen? Das Zoff-O-Meter ist Flitzebogen!
Strammste Körpersprache
110 Tage im Amt und nur Hiobsbotschaften! „Das ist eine furchtbare Katastrophe“, schimpft Scholz gleich zu Beginn über Putins Krieg, „und macht den Bürgern Europas überall Angst!“
Sein oft zitiertes Führungsversprechen bekräftigt der Kanzler mit energischen Fausthieben: „Dass wir Waffen an die Ukraine liefern, hat nicht nur Bedeutung für Deutschland gehabt, sondern viele andere Länder in Europa sind alle dem deutschen Beispiel gefolgt!“, rühmt er.
Selbstbewusstester Dreiklang
Zur Hilfe für die Ukraine gehöre auch, „dass wir Bündnisse schmieden, die sicherstellen, dass eine Möglichkeit für Verhandlungen entsteht“, erklärt der Kanzler dazu in gemessenem Scholz-Stolz.
Sein Beispiel: „Das Sanktionspaket, das wir auf den Weg gebracht haben“, erläutert er, „ist eines, das im Wesentlichen in Berlin, in Washington und Brüssel entstanden ist“ – in dieser Reihenfolge.
Vorwurfvollster Nasenstüber
Die Talkmasterin will nicht unkritisch mitfeiern: Das Versprechen von Waffenlieferungen in der historischen Bundestagsrede habe „durchaus verspätet und zögerlich gewirkt“, hält sie dem Kanzler vor. Die Ukraine habe sich darüber sogar bei der Außenministerin beschwert.
„Es werden fortlaufend Waffen geliefert“, behauptet Scholz ungerührt. „Wir haben darüber auch ein sehr klares Prinzip vereinbart in der Regierung, dass man darüber nicht öffentlich redet.“ Uff! Das heißt wohl: Baerbock, du alte Plaudertasche!
Vielsagendste Geste
„Was Putin angerichtet hat, führt dazu, dass die Nato ihre Präsenz an die Ostgrenze verstärkt“, stellt Scholz fest.
Dann hebt er die verschränkten Hände vor die Brust und deutet zufrieden eine Vorreiterrolle an: „Es führt dazu, dass, der deutschen Entscheidung folgend, viele andere Länder gesagt haben, auch sie werden jetzt ihre Anstrengungen für die Verteidigung verstärken.“ Heidewitzka!
Ärgerlichste Reaktion
Ob Scholz wie schon bei den Waffenlieferungen auch beim Energieboykott seine ursprüngliche Haltung aufgeben muss? will die Talkmasterin wissen. Klingt auch wieder ein bisschen nach Schwäche.
„Ich bin im Dezember Kanzler geworden und habe bei meiner Rede eine jahrzehntelange Praxis der Bundesrepublik beendet“, verteidigt sich Scholz vergrätzt. „Ich finde das ziemlich schnell und ziemlich viel Führung.“
Verständnisvollster Kommentar
Zusatz des Kanzlers im typischen Scholz-Stil: „Wenn jemand das anders sieht, dann gestatte ich das sehr gerne, aber es ist nicht realistisch, dass das eine seriöse Haltung ist.“ Rumms!
Dann aber kehrt staatsmännische Milde ein, und Scholz nimmt die Boykott-Bremser aus Osteuropa in Schutz: „Damit man jetzt nicht über andere zu ungerecht spricht: Einige sind noch mit den Infrastrukturen aus der Zeit der sowjetischen Dominanz versehen.“
Mutigste Prognose
Zu den Kohleimporten aus Russland kündigt Scholz an: „Es kann gelingen, dass wir schon dieses Jahr da keine Abhängigkeit mehr haben.“ Auch die Reduzierung der Ölimporte könne „sehr schnell gelingen“.
Und Gas? „Wir haben Pläne, die wir lange in der Schublade hatten, und für die ich mich allerdings schon sehr lange eingesetzt hatte, jetzt aktiv geschaltet“, berichtet Scholz, und wieder fährt die Kanzlerfaust nieder.
Optimistischste Prognosen
„Wir werden mit dem größten Tempo die technischen Infrastrukturen schaffen, damit wir Gas auch von anderen Lieferanten importieren können“, verspricht Scholz, „in dem wir an den norddeutschen Küsten Terminals für Flüssiggas bauen und sie mit dem deutschen Pipelinenetz verbinden.“
„Wir haben die vielen hundert Milliarden Reserven, die Russland hat, praktisch funktionsunfähig gemacht“, lobt der Kanzler die Sanktionen, aber: „Es geht um unglaublich viele Arbeitsplätze.“
Dann springt das Zoff-O-Meter an
Die Frage, was passiert, wenn Putin den Hahn abdreht, treibe ihn schon seit Dezember um, fügt Scholz hinzu. Die Entscheidung für die Flüssiggasterminals habe auch deshalb so schnell fallen können, „weil wir uns nicht erst seit Kriegsausbruch damit beschäftigt haben.“
Allerdings: Sollte jetzt auf Knall und Fall gar kein Gas fließen, warnt Scholz, dann müssten „ganze Industriezweige ihre Tätigkeit einstellen.“ Uff!
„Das sehen etliche Wirtschaftswissenschaftler anders“, wagt Will einzuwenden. Das treibt den Kanzler-Puls ins Rote: „Die sehen das falsch!“, poltert Scholz. „Es ist unverantwortlich, irgendwelche mathematischen Modelle zusammenzurechnen, die dann nicht wirklich funktionieren!“ Wumm!
Ärgerlichste Antwort
„Sie sagen, dass alle anderen, alle Wirtschaftswissenschaftler, die ja zum Teil zu den Wirtschaftsweisen gehören, nicht verstanden haben“, stichelt die Talkmasterin. Puh!
Scholz beugt sich angriffslustig vor. „Es ist etwas anderes, ob man ausrechnet, wieviel Kohle, Öl und Gas es auf den Weltmärkten gibt“, grollt er, „oder ob man sich mit der Frage beschäftigt: Wo sind die Gasleitungen? Und gibt es, wann auch alle anderen das machen, genügend Kapazität?“ Uiuiui! Das spricht aber nicht gerade für die deutschen Professoren.
Kühlste Antwort
Die Talkmasterin hat sich auch die weitschweifigsten Erklärungen geduldig angehört und dabei offenbar an die Hungernden in den belagerten Städten gedacht. „Erwarten Sie dafür Verständnis von den Menschen in Mariupol?“, fragt sie jetzt.
„Ich kann jeden verstehen, der sich alles Mögliche wünscht“, erwidert der Kanzler patzig. „Deshalb ist es ja so wichtig, dass wir ständig mit der ukrainischen Regierung reden.“ Puh!
Unwillkommenste Frage
Will feuert das nächste Kaliber ab: „Beschämt es Sie im Rückblick, dass gerade die SPD mit 19 Jahren Regierungsbeteiligung seit der Wiedervereinigung uns mit in diese Lage gebracht hat, in der wir wahnsinnig erpressbar sind?“
Nicht doch! Scholz schüttelt grimmig den Kopf: „Da kommt jetzt einiges durcheinander“, spottet er. „Ich glaube mich zu erinnern, dass die letzten 16 Jahre eine CDU-Kanzlerin das Land regiert hat.“
Hm – war es nicht sein Chef Gerhard Schröder, der kurz vor Merkel als praktisch allerletzte Amtshandlung schnell noch mit Putin „Nord Stream 1“ ausgekungelt hat? Aber danach fragt Will leider nicht. Schade auch!
Dialog des Abends
Stattdessen hält Will dem Kanzler ein Stöckchen hin: „Joe Biden nennt Putin einen Schlächter, einen Kriegsverbrecher. Tun Sie das auch?“
„Der Krieg ist ein Verbrechen, und das ist Putins Krieg, da darf nicht drum rumgeredet werden“, antwortet Scholz. „Er trägt die Verantwortung dafür.“
„Aber Sie sagen nicht, er ist ein Kriegsverbrecher“, setzt die Talkmasterin nach.
„Naja“, windet sich Scholz, „Es ist schon ziemlich klar, was das bedeutet.“
„Warum sagen Sie es dann nicht?“, kommt prompt die nächste Frage. Ächz!
Doch nun wechselt Kanzler in bewährter Manier einfach das Thema: „Ich finde, wir sollten jetzt alles dafür tun, das wir maximalen Druck entfalten…“ Doch wieder erfolgreich durchgescholzt!
Launigste Ankündigung
Danach möchte die Talkmasterin den Kanzler als selbstherrlichen Obermacker vorführen: Scholz habe die 100 Milliarden für die Bundeswehr versprochen, ohne dass Wirtschaftsminister oder Außenministerin davon gewusst hätten. Wills spitze Frage: „Wo ist für Sie der Unterschied zwischen Führung und Alleingang?“
„Die Regierung handelt völlig einvernehmlich“, grient der Kanzler, aber: „Sie verstehen, dass ich über die inneren Geschäfte des Regierungshandelns nirgendwo was ausplaudern werde. Nicht mal in meiner Biographie, falls ich je eine schreiben sollte.“ Das kann ja heiter werden…
Gefährlichster Reflex
Zum Schluss weist Will listig darauf hin, dass „mancher linke Sozialdemokrat große Probleme, ja Gewissensnöte hat“, für die Bundeswehr so viel Geld auszugeben.
Das triggert den ehemaligen Juso und Generalsekretär in der Tiefe des Herzens: „Es ist schon die Rückkehr des Imperialismus, die wir aus den Worten des am… – des russischen Präsidenten hören“, haspelt er. Erwischt! Bei „Imperialismus“ denkt der klassische Sozi eben noch immer zuerst an die bösen Amerikaner.
Letztes Gefecht
„Ich bin sicher, dass es die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit geben wird“, sagt der Kanzler zum Schluss über die Grundgesetzänderung zur Bundeswehr voraus. „Das ist die Botschaft, die wir dem russischen Präsidenten senden: Wage es nicht!“
„Ich habe das aus tiefer innerer Überzeugung vorgeschlagen“, bekennt er. „Mir haben viele Abgeordnete berichtet, auch solche, die anfangs skeptisch waren, dass sie in ihrem Wahlkreis nur positive Rückmeldungen bekommen haben.“ Hosianna!
Fazit
Saftige Fragen, trockene Antworten. Die Talkmasterin pausenlos im Attacke-Modus, der Kanzler mit leicht durchschaubaren Defensivtricks, ständigen Stellungswechseln und waghalsigen Umdeutungen der Realitäten. Das war eine Talkshow der Kategorie „Scholzbruchstelle“.