„Maybrit Illner: Die Politik macht auf – die Unsicherheit bleibt“. ZDF, Donnerstag, 30.April, 22.35 Uhr.
Bundesfamilienministerin Franziska Giffey und FDP-Chef Christian Lindner haben sich in der ZDF-Talkshow „Maybrit Illner“ im Donnerstag gleich mehrere scharfe Rededuelle geliefert. Im Kern ging es dabei um Lindners harter Kritik an den Corona-Maßnahmen der Bundesregierung.
Ganz Deutschland scharrt mit den Hufen: Wann geht es endlich wieder los? Familien leiden, Experten streiten, Richter kippen Verbote. Illners Gäste:
Familienministerin Giffey machte zwei Stunden zuvor in einem ARD-Extra klar: „Kinderschutz ist auch Gesundheitsschutz!“
Lindner hat zuletzt seine Kritik vor allem an der Corona-Kanzlerin weiter verschärft.
Für den Bundesverfassungsrichter a.D. Prof. Udo Di Fabio sind die Maßnahmen der Politik vom Grundgesetz voll gedeckt.
Der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit fordert: „Wissenschaft braucht einen geschützten Raum“, auch um Erkenntnisse in Ruhe und ungestört ausdiskutieren zu können.
Der Pädagoge Robert Giese leitet eine Gemeinschaftsschule in Berlin und verlangt mehr Vertrauen.
Die Diplom-Pädagogin Katia Saalfrank („Super Nanny“) gibt bei RTL Ratschläge, z.B. „Wie gehe ich mit meinen gelangweilten Kindern um?“
Der Ton wird schärfer – unter den Politikern, aber auch gegenüber den Experten. Und es gibt auch gleich Zoff!
Härtester Vorwurf
Der FDP-Chef reitet die erste Attacke – nicht überraschend: Die AfD fällt bei Corona aus, die Grünen stehen immer noch auf dem falschen (Klima)-Fuß und die Linke kommt auch nicht so recht aus dem Quark.
Lindners Bart wird immer länger und grauer, aber bis zur Altersmilde ist es noch weit. Sein Parteifreund Wolfgang Kubicki hat was von „politisch motivierten“ Corona-Zahlen gesagt. Die Talkmasterin hörte einen „verschwörerischen Ton“ heraus.
Der Chefliberale nahm den Parteifreund in Schutz: „Fakt ist: Regierungen in Bund und Ländern verbreiten am selben Tag unterschiedliche Zahlen!“ schimpfte er. „Das geht natürlich zu Lasten des Vertrauens der Bevölkerung!“ Rumms!
Virologe Schmidt-Chanasit weiß, dass die Kritik vor allem auf seine Zunft zielt: „Es gibt keine Blaupause, und deshalb bei einigen Werten immer Nachbesserungen“, verteidigte er sich und die Kollegen.
Die „Super Nanny“ ist sauer auf die Politik: „Ich weiß, dass sich viele Familien alleingelassen fühlen“, erklärte sie vorwurfsvoll. Ihre Warnung: „Aus der Notbetreuung darf keine not Betreuung werden!“
Unerfreulichste Wasserstandsmeldung
„Es kann sein, dass das Schlimmste noch vor uns liegt!“ warnte der Virologe. Über die Reproduktionszahl, an der sich die Ansteckungsgefahr ablesen lässt, sagt er: „Ob sie sich weiter drücken lässt, ist ein mögliches Modell, aber wir wissen es nicht.“
Schlüssigste Auslegung
Auch für Maybrit Illner war das Zitat des Bundestagspräsidenten über den Wert des Lebens ein willkommener Debattenfunke: Was Lindner wohl dazu sage?
„Er hat beschrieben, was unsere Verfassungsordnung ist“, antwortete der FDP-Chef.
Und, so Lindner: „Zu Beginn habe ich es für verhältnismäßig gehalten, kontrolliert das Land herunterzufahren, doch heute nicht mehr, weil mildere Mittel zur Verfügung stehen.“
Interessantestes Beispiel
Aus Köln war Prof. Udo di Fabio zugeschaltet. „Jeder freiheitliche Verfassungsstaat muss balancieren zwischen Freiheit und Sicherheit“, erklärte er als allererstes.
Das passende Beispiel zog er aus eigenem Erleben: „Als ich meinen Führerschein gemacht habe, waren es über 20.000 Verkehrstote im Jahr.“ Aber, so der Verfassungsrechtler, „durch Mobilität werden auch Lebenschancen geöffnet, wird auch ermöglicht, dass wir eine wohlhabende Gesellschaft sind, die ein hohes medizinische Betreuungsniveau hat!“
Kernschmelzpunkt der Diskussion
„Es ist eine furchtbare Frage“, sagte Illner besorglich, „aber wie viele Tote würden wir als sozial adäquat akzeptieren?“
„Wir haben nicht genügend Wissen über die Pandemie“, antwortete di Fabio. Klar sei allerdings: „Wir sind zur Zeit in einer gesteigerten Risikolage.“
Klügste Analyse
„Die Politik muss die Entscheidung treffen: Geht es nach einem Vorsichtsprinzip weiter und halten wir am Lockdown fest? Oder lockern wir, in einer risikoadäquaten Weise?“ Beide Wege seien „moralisch nicht diskreditierbar“, urteilte der Ex-Richter. Aber: „Wenn wir mit Aussagen an die Öffentlichkeit gehen und sagen, da sterben nur Menschen, die sowieso sterben mussten, dann hat man einen verfassungsrechtlich prekären Tonfall angenommen!“
Unbequemste Erkenntnisse
Pädagogin Saalfrank prangerte soziale Probleme an, die von Corona nur verdeckt würden: „Kinder, die jetzt zuhause nicht gut aufgehoben sind, sind auch sonst zuhause nicht gut aufgehoben!“
Illner erinnerte an die überraschende Mitteilung des Virologen Christian Drosten, dass Kinder ebenso ansteckend seien wie Erwachsene.
„Das kann man aus einer einzigen Studie nicht ableiten“, meinte Kollege Schmidt-Chanasit. „Dazu sind weitere Studien notwendig.“
Härteste Kanzlerinschelte
Lindner nahm Angela Merkel aufs Korn: „Die Jugend- und Familienminister machen ein Konzept, das Frau Giffey auch begrüßt hat. Frau Merkel sagt: Das beschließen wir diese Woche nicht, machen wir nächste Woche. Eine Woche verloren!“
„Das Gleiche passiert in der Kultusministerkonferenz“, schimpfte der FDP-Chef weiter. „Die 16 Kultusminister entwickeln ein Konzept, speziell in NRW gibt es eine Einigkeit der Regierung, der Kommunen und der Gewerkschaften, aber Frau Merkel sagt: Erst nächste Woche!“
„Herr Lindner, das stimmt einfach nicht!“ protestierte Giffey prompt. „Ich war selber dabei. Es wurde sehr, sehr viel darüber gesprochen!“
„Wo ist der Beschluss?“ fragte Lindner barsch.
„Es wurde genauso darüber gesprochen, dass eben das Infektionsgeschehen in den Bundesländern unterschiedlich ist“, verteidigte die Ministerin sich und die Kanzlerin.
„Dann können wir ja unterschiedlich vorgehen!“ erwiderte Lindner trocken.
Schärfster Wortwechsel
„Das muss geklärt werden“, gab die Ministerin zu. „Aber die Leute wollen auch ein bundeseinheitliches, abgestimmtes Vorgehen. Und es muss natürlich auch eine Entscheidung über die Zeitpunkte gegeben werden…“
„Wenn das noch nicht passiert ist“, ärgerte sich Lindner, „dann halte ich das für einen echten Mangel!“
„Sie müssen auch das Infektionsgeschehen berücksichtigen!“ wehrte sich Giffey.
„Das ist ja alles in den Konzepten schon enthalten!“ sagte der FDP-Chef. „Das sind ja sechzehn hochkompetente Landesverwaltungen, die die Lage vor Ort kennen. Ich kritisiere, dass das nicht notwendig ist, dass wieder eine Woche ins Land gegangen ist!“
Typischste Beobachtung
„Je jünger die Schüler sind, desto problematischer wird es“, berichtete Lehrer Giese aus seinem Alltag. „In der Schule sind sie diszipliniert, aber wenn sie die Schule verlassen, bilden sie Rudel, umarmen sich und konterkarieren so alle unsere Maßnahmen.“
Sein Lösungsvorschlag für nötiges Nachholen: „In Berlin gibt es eine Vorüberlegung, das man auf freiwilliger Basis flächendeckend Sommerschulen anbietet. Wo beispielsweise die Nachhilfeinstitute, die im Moment ja nicht arbeiten können, mit herangezogen werden könnten.“
Sein größtes Problem: „Ich habe im Moment noch Desinfektionsmittel für eine Woche!“
Und schon wieder Stoff für Zoff!
Der FDP-Chef schlug vor, Familien, die ihre Kinder selbst betreuen wollen, Steuererleichterungen zu gewähren. Auch in der Digitalisierung könnten die Schulen viel besser werden
Die Ministerin wollte ihn auch mal abgrätschen: „Wissen Sie, Herr Lindner, was eine viel direktere Hilfe wäre?“ fragte sie. „Wenn man mal endlich überall, wo in den Ländern – NRW gehört dazu – dreistellige Beträge an Kitagebühren aufgerufen werden, mal sagen würde, wir entlasten die Eltern nicht nur drei Monate!“
Doch das Tackling führte zu einem Eigentor: „Frau Giffey, ich habe eine gute Nachricht für Sie“, konterte Lindner. „Nach dem Regierungswechsel von Rot-Grün zu Schwarz-Gelb haben wir die Eltern ein weiteres Jahr beitragsfrei gestellt!“
„Donnerwetter!“ lobte Giffey höhnisch. „Und was ist mit den anderen?“
„Wir haben eine rot-grüne Bilanz übernommen, aber wir arbeiten daran“, sagte Lindner mit einem Zwinkern.
Mutigste Banalitätenparade
„Wir müssen trotz allem auch eins irgendwie mal auch sehe: Das Leben und alles, was sich damit verbindet, hat auch Gefahren, die uns immer wieder begegnen“, sagte die Ministerin frank und blank.
Lindner faltete ergeben die Hände: An diesem Gemeinplatz gab es zumindest inhaltlich nichts mehr zu kritisieren.
„Das Leben ist lebensgefährlich!“ fuhr Giffey fort, und: „Kinder brauchen Kinder!“
Illner haute auch noch einen Binse raus, sogar als Schlusswort: „Ein vollständig risikoloses Leben ist kein schönes Leben.“ Amen!
Fazit: Zoff ohne Abstandsscham und Binsen ohne Reue, statt sachorientierter Debatte mit Ruhepuls viel Mecker und Mimimi. Aber auch klare Kanten, interessante Infos und vor allem super Experten: Das war eine Talkshow der Kategorie „Coronische Stressbelastung“.