„Maybrit Illner: Pandemie und Protest – kann Corona das Land spalten?“ ZDF, Donnerstag, 14.Mai 2020, 22.35 Uhr.
Der politische Solo-Selbständige Boris Palmer (Grüne) hat sich in der ZDF-Talkshow „Maybrit Illner“ am Donnerstag mit dem lockerungsskeptischen System-Immunologen Michael Meyer-Hermann ein heftiges Rededuell geliefert.
Im Kern ging es dabei um eine Behauptung des Tübinger Oberbürgermeisters, die der Experte vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung energisch bestritt.
Deutschland kommt wieder in die Gänge, mit Mut, aber auch viel Wut. Die Gäste bei Maybrit Illner:
Der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans sieht die aktuellen Grundrechtsabwägungen als „permanente Gratwanderung“.
Palmer verspürt seit seinem umstrittenen Corona-Statement erhöhten Erklärungsdruck.
Die Medizinethikerin Prof. Christiane Woopen fordert: „Wenn sich die Situation stabilisiert, müssen die Grundrechte wieder voll zur Geltung kommen!“
Meyer-Hermann hätte den Lockdown gern noch um drei Wochen verlängert.
Der Ex-BILD-Vize Nikolaus Blome deckt jetzt beim „Spiegel“ die rechte Flanke ab.
Fachmannschaft mit Meinungskraft! Die Ethik-Professorin setzte den Grundton des Talks mit dem bitteren Zitat einer Betroffenen: „Würde meine Oma doch im Zoo leben, dann könnte ich sie besuchen!“
Das alarmierende Lagebild der Expertin: „Vielen Menschen ist der Boden unter den Füßen weggezogen worden!“
Härtester Tadel
Der Oberbürgermeister, aus Tübingen zugeschaltet, urteilte über die teils irren Lockdown-Demos mit einem Zitat des verstorbenen Soziologen und FDP-Politikers Ralf Dahrendorf, „dass in der Demokratie die Integration durch Streit gelingt“.
Palmers Vorwurf: „Ich glaube, wir sind dabei, einen ähnlichen Fehler zu machen wie (in der Flüchtlingskrise von) 2015, als eine moralisierende Alternativlosigkeit postuliert wurde!“
Uff! Der Mann hat keine Angst vor der grassierenden Shitstürmerei!
Persönlichste Frage
Auch darin ähnelt der Tübinger seinem Vater Helmut Palmer, der als „Rebell vom Remstal“ seit den 1970er Jahren auf dem Dach seines Lieferwagens mit dem Megaphon schwäbische Kommunalwahlen aufmischte.
Die Talkmasterin wollte wissen, was Palmer senior heute zu den Lockdown-Gegnern sagen würde. „Mein Vater hätte ganz vielen Demonstranten ordentlich die Meinung gesagt“, antwortete der Junior, „weil da ganz eindeutig Leute dabei sind, die kruden Theorien folgen!“
Größte Sorge
„Ich finde, dass bei diesen Protesten vorne auf der Bühne echt Irre stehen“, bestätigte der neue „Spiegel“-Autor, „und dass, je weiter Sie nach hinten kommen, offenkundig deutlich weniger Leute irre sind.“
Blomes Warnung: „Das Problem ist nicht die Irren vorne auf der Bühne, sondern die Möglichkeit, dass es wieder wie bei der Zuwanderung 2015 eine Massenbewegung wird!“
Sein populärster Kritikpunkt: „Leute von der Parkbank zu scheuchen ist irre!“
Klarste Feststellung
„Wir können in Deutschland stolz darauf sein, anders als in den Ländern um uns herum einen sehr flachen Verlauf der Epidemie zu haben“, stellte der Virologe fest.
Allerdings würden die Demonstrationen „epidemiologische Folgen“ haben – sprich: neue Ansteckungsfälle verursachen, warnt der Experte.
Deutlichste Warnung
Leere Betten, so Meyer-Hermann, „sind ja kein Zeichen dafür, dass wir etwas falsch gemacht haben, sondern dass wir alles richtig gemacht haben. Das ist doch eigentlich die große Leistung dieses Landes!“
Seine Befürchtung: „Ich sehe das große Risiko in den Schulöffnungen, weil da ein sehr schneller Herd (entstehen kann), und das wird sehr schnell in die Familien und an die Arbeitsplätze getragen!“
Ehrlichste Selbstkritik
Die Talkmasterin erinnerte an Palmers umstrittenen Satz „Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“ Viele Grüne wollen den erfolgreichen Kommunalpolitiker seither aus der Partei schmeißen.
Es sei ein Live-Interview gewesen, in dem er einen dummen Satz gesagt habe, gestand Palmer ohne Umschweife und fügte hinzu: „Ich entschuldige mich bei allen, die sich geängstigt gefühlt oder den Eindruck gewonnen haben, ich würde jetzt alte Menschen aufgeben oder gar Euthanasie befürworten.“
Gelungenster Entlastungsversuch
„Wir haben in Tübingen als erste Stadt in Baden-Württemberg alle Alten- und Pflegeheime gescreent“, berichtete der OB danach. „Wir konnten dadurch einen Ausbruch stoppen, der schon begonnen hatte. Das hat viele Menscheneben gerettet!“
Palmer weiter: „Von den 7000 deutschen Toten ist ein Drittel in solchen Heimen gestorben. Wir hätten diese Todesfälle vermeiden können, wenn wir von Anfang an eine konsequente Teststrategie für diese Risikopatienten gefahren hätten!“
Bewegendster Satz
„Dass wir das bis heute nicht gemacht haben, halte ich
für geradezu fahrlässig“, schimpfte der Grüne. „Es kommt dazu: In Alten- und Pflegeheimen lebt man in Deutschland, wenn man dort ist, im Schnitt elf Monate. Das war der Hintergrund meine Bemerkung.“
Seine Kritik: „Ich habe gerade eine Todesanzeige gelesen, wo die Angehörigen sagen: Unsere Mutter mit 90 Jahren ist nicht an Corona gestorben, sondern an der Einsamkeit!“
Und: „Es waren jetzt über 10.000 Menschen, die mit totaler Kontaktisolation vollkommen einsam gestorben sind!“
Eindringlichste Warnung
„Wenn sich die Ausbreitung eines Virus nicht mehr gänzlich unterdrücken lässt, ist die Protection-Phase einzuleiten“, erklärte Palmer dazu. „Heißt: Intensivster Schutz der Risikogruppen!“
Und zwar, „weil wir es wirtschaftlich und auch im Blick auf Leben nicht durchstehen, ein oder zwei Jahre – wie es der Herr Lauterbach (SPD-Gesundheitsexperte) empfiehlt – die Wirtschaft so runterzufahren.“
Erschreckendste Zahl
Womöglich noch schlimmer: Die Johns-Hopkins-Universität, die weltweit Infektionszahlen sammelt, sage voraus, so Palmer: „Unsere Shotdown-Maßnahmen werden weltweit 1,2 Millionen Kinder das Leben kosten!“
„Das können wir doch nicht einfach hinnehmen!“, empörte sich der Grüne-Politiker. „Wir müssen bessere Strategien entwickeln, und die gibt es!“
„Falschinformation!“ protestierte der Immunologe. Es gebe eine Untersuchung in Deutschland, wie lange die Menschen, die an Corona gestorben sind, noch gelebt hätten: „Das ist im Durchschnitt neun Jahre!“
„Das halte ich für falsch!“, widersprach Palmer vom Bildschirm herab.
„Wir reden hier nicht über Meinungen hier, wir reden über wissenschaftliche Fakten!“, ärgerte sich Meyer-Hermann.
Palmer gab sich aber nicht geschlagen, sondern wiederholte seine Zahlen aus Tübingen: „Das ist einfache Mathematik!“
„Ihre Einrichtung ist nur ein kleiner Teil der Statistik!“, konterte der Virologe.
Energischster Einspruch
„Elf Monate oder neun Jahre – ist das überhaupt relevant?“, fragte die Ethikerin. „Das zählt doch gar nicht in einem Land, wo wir die Würde des Menschen in der Verfassung zu stehen haben!“
„Wir haben viele Menschen würdelos sterben lassen!“, bekräftigte Palmer. Und die drohende Weltwirtschaftskrise werde noch viel mehr Opfer fordern.
Verblüffendste Info
„Wenn wir am 20.April gar nicht gelockert hätten, wären wir jetzt in einem Zustand, wo wir weitgehend alles hätten aufmachen können!“, behauptete der Immunologe.
„Wir stehen am Beginn einer Zeitenwende“, stellte die Ethikexpertin fest, und das sei auch eine große Chance.
Realistischste Ansage
„Wir müssen den Menschen reinen Wein einschenken“, erklärte der Ministerpräsident zum Schluss. „Wir werden nicht alles kompensieren können durch staatliche Hilfen, was in dieser Krise kaputtgeht.“
„Gleichzeitig bleibe ich noch ein bisschen optimistisch“, fügte er hinzu. So werde es „einen Tourismus geben auch in Deutschland, der jetzt noch mal boomt.“
Sein Mutmacher: „Es gibt so viele schöne Flecken in Deutschland. Da wird es auch positive Effekte geben!“
Fazit: Viel Rätselraten im weiten Spannungsfeld zwischen übereifriger Gastropolizei, wildgewordenen Coronarumpelstilzchen und freiwilliger Intelligenzquarantäne. Das war ein Talk der Kategorie „Nervenprobe“.