„Maybrit Illner: „Der Sommer geht, Corona bleibt – wird der Herbst zum Risiko?“ ZDF, Donnerstag, 24.September 2020, 22.15 Uhr.
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) hat in der ZDF-Talkshow „Maybrit Illner“ am Donnerstag ein härteres Vorgehen gegen die Partyszene der Hauptstadt angekündigt.
Dabei sagte der Regierungschef, besonders auf illegale Treffen wolle er jetzt mit Polizeieinsätzen „verschärft reagieren“.
Temperaturen runter, Infektionen rauf. Was tun? Maybrit Illner fragte kompetente Gäste:
Müller kämpft im Virenkrieg auch um seine Kandidatur für den Bundestag.
Der neue FDP-Generalsekretär Volker Wissing fordert den Sofort-Stopp der Corona-Einschränkungen.
Die Virologin Prof. Ulrike Protzer warnt vor einer Doppel-Welle von Grippe und Corona.
Ute Teichert, Bundesvorsitzende der Ärzte in den Gesundheitsämtern, kritisiert: „Die Warn-App ist für uns keine große Unterstützung!“
Die Allgemeinmedizinerin Sibylle Katzenstein bietet in ihrer Praxis Corona-Tests ohne Termin an.
Der Infektionsforscher Michael Meyer-Hermann findet: „Es ist nicht klar, welche Strategie die Regierung verfolgt!“
Zwei Politiker, vier Experten. Wie hoch war der Erkenntnisgewinn?
Gegensätzlichste Standpunkte
Der Bürgermeister startete mit einem sachlichen Selbstlob: „Wir haben die Situation gut beherrscht“, findet er. „Aber jetzt müssen wir uns vorbereiten auf eine Zeit, wo es wieder sehr kritisch werden kann.“
Der FDP-General witterte neuen Verbotseifer und drückte gleich mal auf die Bremse: „Wir müssen verhältnismäßig vorgehen“, mahnt er. „Wir müssen die Bevölkerung mitnehmen!“
Denn, so Wissings liberales Credo: „Wir sind verpflichtet, permanent zu evaluieren, ob die Maßnahmen richtig und vertretbar sind.“
Erfreulichstes Lob
„Ich finde es gut, dass die Politik da so rangeht“, sagte Teichert für die Gesundheitsämter, aber: „Es wird kalt. Wir ist es mit den Lüftungen? Da müssen wir jetzt genau hingucken!“
„Zum Glück ist Deutschland in einer stabilen Lage“, assistierte Virologin Protzer. Aber: „Die Zahl der Infizierten steigt vor allem durch die Urlaubsrückkehrer.“
Interessantester Lagebericht
Ärztin Katzenstein zählt jetzt täglich 85 Infizierte: „So viele hatte ich noch nie. Die Schlange vor meiner Praxis ist 200 Meter lang. Ich verstehe nicht, warum es so schwer gemacht wird, sich testen zu lassen!“
Bei ihr kommt jeder ohne Anmeldung dran. Dauert natürlich. Deshalb forderte sie Test-Kits für Zuhause, denn dann entfallen Fahrten etwa im ÖPNV mit entsprechender Ansteckungsgefahr: „Der Test muss zum Patienten und nicht umgekehrt!“
Eindringlichste Warnung
Wissler warnte vor zu viel Staatsmacht: „Ich kann doch nicht sagen, aus Präventionsgründen mache ich jetzt maximale Grundrechtseingriffe!“ wetterte er. „Ohne die Eigenverantwortung der Bürger können wir nur ganz schwer etwas erreichen. Ich will nicht in einem Obrigkeitsstaat leben, wo man behandelt wird wie bei der Kavallerie!“
„Der Erfolg, den wir bisher hatten, sind die Menschen“, bestätigte die Virologin. „Im Moment gibt es viele Infektionen bei jungen Menschen, aber auch die können wir mitnehmen. Denn sie wissen: Wenn sie zu viel Party machen, gefährden sie ihre Großeltern!“
Dann ging der Zoff los
Müller hat nicht viel Vertrauen in die Einsicht der Party-Szene. Besonders auf illegale Treffen will er jetzt mit Polizeieinsätzen „verschärft reagieren“.
Für Ärztin Katzenstein ist das aber nicht das richtige Rezept: „Ich befürchte, dass die Leute dann gar nicht mehr zur Testung kommen“, warnte sie. „Die machen Party, und dann geht sie nach Hause und testen nicht.“
Ungeduldigster Ordnungsruf
„Erst mal sollten wir an die Risikogruppen denken und nicht so viel an die Feiernden“, funkte Teichert dazwischen.
Über die Corona-App sagte sie: „Sie ist nicht konzipiert, um die Gesundheitsämter zu entlasten!“
„Sie soll sensibilisieren“, erklärte Müller.
„Bei der Digitalisierung muss jetzt Gas gegeben werden!“ forderte der FDP-General.
Das meinte auch Illner: Dass erst vier Prozent die App heruntergeladen haben, sei „kein Granatenerfolg“.
Und noch mal Zoff
Der Bürgermeister pries die Testungen der Charité. Die Ärztin sah aber nicht ein, dass Berliner dazu oft durch die halbe Stadt fahren müssten.
„Das müssen sie ja gar nicht“, entgegnete Müller, die Charité teste ja etwa auch an den Schulen. Doch die Ärztin schüttelte den Kopf: Ihr Ehemann ist Lehrer, und die Begeisterung an den Schulen über den Einsatz der Berliner Renommierklinik hält sich offenbar sehr in Grenzen.
Wichtigste Klarstellung
Über die neuen Schnelltests in nur 15 Minuten sagte Prof.Protzer kritisch: „Das Problem ist nicht die Geschwindigkeit, sondern: Termin kriegen, Abstrich machen, Transport ins Labor, dort Aufarbeitung.“ Das koste Zeit.
Das Problem dabei: Es gehe um hoch infektiöses Material. „Da kann ich nicht vor dem Altersheim testen“, erklärte Protzer. „Das muss eine medizinische Fachkraft machen!“
Düsterste Prognose
„Wir stehen vor einer schweren Wirtschaftskrise“, warnte Wissing. „Wir müssen unsere Kontakte ins Ausland aufrechterhalten. Unser Gesundheitssystem basiert auf unserem wirtschaftlichen Erfolg. Da können wir nicht sagen, wir stellen das Reisen ein!“
„Es ist sehr ratsam, auf Urlaubsreisen in Risikogebiete zu verzichten“, fügte der FDP-General hinzu. „Aber es ist auf Dauer nicht möglich, dass wir die Geschäftsreisen auf Eis legen!“
Gravierendster Unterschied
„Wir haben mit rund 2000 Neuinfektionen pro Tag jetzt wieder so viele wie im April“, sagte Infektionsforscher Meyer-Hermann, aus Braunschweig zugeschaltet. Aber: „Damals hatten wir fallende Zahlen, jetzt steigen sie.“
Seine Warnung: „Manchmal kriegt man selbst durch Gegensteuern das Schiff nicht mehr rum. Es ist der falsche Moment, darüber nachzudenken, die Fußballstadien wieder zu öffnen!“
Appell des Abends
„Wir wollen den Lockdown verhindern“, sagte Müller energisch. „Wir dürfen nicht die Decke über den Kopf ziehen. Und jedes Bundesland muss sich ohne jede Eitelkeit fragen, was es dazu beitragen kann!“
Wertvollste Zusage
Ärztin Katzenstein wollte aber auch was Praktisches hören: „Es wird kalt“ sagte sie und erinnerte an die langen Schlangen vor ihrer Praxis. „Kann ich Heizpilze aufstellen?“
Mit der Gastronomie klappe das ja schon, antwortete der Bürgermeister und versichert: „Ich kann mir vorstellen, dass wir für Sie auch eine Lösung finden!“ Da freute sich die Ärztin, und der Runde wurde es warm ums Herz.
Wichtigster Rat
Zum Schluss informierte Prof.Protzer über alarmierende Studien, die zeigen, dass Menschen zugleich an Grippe und Corona erkranken können: „Das werden dann schwere Verläufe!“ Ihr dringender Rat an die Bevölkerung: „Lasst euch gegen Grippe impfen!“
Fazit: Vorsichtige Politiker, noch vorsichtigere Experten, die Runde als Suchtrupp im Dschungel weitgehend unerforschter Risiken und Nebenwirkungen, das Ganze ohne Showeffekte: Das war ein Lehr-Talk der Kategorie „Pragmatisch, praktisch, gut“.