„Anne Will: Ein Jahr Corona-Pandemie – Zeit für neue Perspektiven?“ ARD, Sonntag, 31.Januar 2021, 21.45 Uhr.
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) hat in der ARD-Talkshow erneut Zwangsmaßnahmen gegen produktionsunwillige Pharmaproduzenten ins Gespräch gebracht.
Wörtlich sagte der Minister, er könne sich das vorstellen, etwa „wenn irgendwo ein Unternehmen Kapazitäten zur Verfügung hätte, aber sie einfach nicht einsetzt“.
Die Infektionszahl sinkt, doch das Spritzen stockt, das Land ist down, null Bock auf Lock! Am Vorabend des Impfgipfels zog Anne Will Bilanz. Die Gäste:
Bundeswirtschaftsminister Altmaier (CDU) ist der Marathon-Mann im deutschen Talk-Theater, argumentiert sich bald einen Wolf.
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) fordert einen nationalen Impfplan.
Die Virologin Prof. Corinna Pietsch möchte konsequentere Schließungen.
Die Einzelhändlerin Brigitte Meier leitet einen leidenden Familienbetrieb und möchte mehr Lockerungen, aber schnell!.
Der Volkswirtschaftler Prof.Clemens Fuest leitet das ifo Institut und berät den Finanzminister.
Entscheider, Berater und eine Betroffene. Zum Start die aktuelle Gefahrenlage
Die Virologin konnte inzwischen sowohl die britische als auch die südafrikanische Mutante nachweisen: „Die britische ist inzwischen in fast jedem Bundesland vermeldet worden, die südafrikanische vielleicht so in sechs Bundesländern“, berichtete sie.
„Und wie gefährlich sind diese Mutanten?“, wollte Will wissen.
„Es ist auf jeden Fall so, dass sie häufiger übertragen werden“, antwortet die Professorin. Ihre bedenkliche Prognose: Der Anteil der Mutationen von bisher einem Prozent an den gesamten Corona-Infektionen werde sich jetzt jede Woche verdoppeln.
Energischstes Statement
Unternehmerin Meier hatte viel Groll im Gepäck und war auch gleich angeknipst: „Wir haben Corona immer sehr, ernst genommen und viel mehr getan als vorgeschrieben“, berichtet sie. „Ich fordere, dass wir jetzt mit sehr klugen und vorsichtigen Maßnahmen wieder langsam an den Start gehen können!“
Ihre Erwartung: „Bedächtig, aber bitte sofort! Ich finde, der Staat muss jetzt mal liefern. Wir liefern ja auch immer!“
Gewichtigstes Gegenargument: „Wir haben in vielen Ländern erlebt, dass es nicht darauf ankommt, dass das einzelne Geschäft alles tut“, erwidert Altmaier, „sondern darauf, dass wir die Kontakte der Menschen untereinander reduzieren, in den Fußgängerzonen, Bussen, Bahnen.“
„Was mich umtreibt, ist, dass wir den Menschen jetzt schon einen längeren Lockdown zumuten als im Frühjahr“, gibt der Minister zu. „Aber wir hatten ja auch Zahlen, die weitaus höher waren: Über 35 000 Infektionen, über 1000 Tote an einem Tag!“
Vorsichtigste Prognose
Altmaiers Hoffnung: „Wenn wir die Geduld, dafür zu sorgen, dass die Zahlen richtig sinken, jetzt noch einige Tage oder zwei, drei Wochen länger aufbringen, dann wird eine Perspektive sichtbar“, kündigt der Minister vorsichtig an.
Die Talkmasterin möchte ihn gern festnageln: „Wie lange denn? Bis Mitte Februar?“
Doch Altmaier lässt sich auf nichts ein, im Gegenteil: „Wir wissen, dass ganz viele Menschen gestorben sind, die eigentlich noch zwei, drei, vier Jahre hätten leben könnten, wenn wir diese Infektionswelle früher eingedämmt hätten!“
Deutlichste Absage
Bei Weil ist auch nicht viel mehr herauszuholen: „Ich kann niemandem zu viel Hoffnung machen“, sagt der Ministerpräsident klipp und klar. Ob sich schon am 15. Februar mehr dazu sagen lasse oder überhaupt im Februar, „das kann ich nun wirklich nicht versprechen!“
Das sieht auch der Wirtschaftswissenschaftler so, aber: „Wir dürfen nicht nur an Schließungen denken, sondern auch stärker an Maßnahmen, die Öffnungen ermöglichen“, fordert er und meint: mehr Masken, Tests, Homeoffice.
Interessanteste Info
„Etwa 80 Prozent des Rückgangs an Konsumausgaben liegen nach Studien an der Präsenz des Virus und nicht an den Lockdown-Maßnahmen“, stellt Fuest fest. „Die Leute hören einfach auf, in Restaurants zu gehen.“
Unzufriedenster Kommentar
Die Unternehmerin Meier ist von der Debatte enttäuscht: „Das bringt mir gar nichts“, klagt sie. „Ich höre jetzt seit Monaten eine Mischung aus ‚Das wissen wir nicht‘ oder konkreten Aussagen wie von Gesundheitsminister Spahn, der im September sagte: ‚Mit dem Wissen von heute hätten wir die Läden im März und April nicht schließen müssen.‘“
„Auf was kann ich mich da eigentlich noch verlassen?“, ärgert sie sich, „wenn ich auf der anderen Seite höre, dass bei den Menschen, die getestet werden, nicht einmal die Berufe abgefragt werden?“
Dann springt das Zoff-o-Meter an
Und jetzt wird die Einzelhändlerin so richtig sauer. „Menschenskinder!“, bricht es aus ihr heraus. „Wir haben jetzt seit zwölf Monaten dieses Virus im Land, und so eine Lächerlichkeit wird nicht gemacht!“
Andererseits aber, so Meier weiter: „steht bei mir das Finanzamt vor der Tür und will pünktlich die Zahlung. Und da gibt’s kein ‚Ach vielleicht‘ und ‚Morgen‘, sondern ‚Her mit der Kohle!‘“ Rumms!
Ehrlichstes Eingeständnis
„Es ist richtig, dass wir wenig wissen“, gibt Altmaier zu. „Das hängt damit zusammen, dass sicherlich auch Fehler gemacht werden. Überall, wo Menschen arbeiten werden Fehler gemacht.“
Über Infos wie etwa die Berufe Infizierter sagt der Minister: „Zu Beginn der Pandemie ist das wohl auch zum Teil abgefragt worden. Dann wurden die Daten aus Datenschutzgründen wieder gelöscht.“
Unwillkommenste Prognosen
Altmaier hat ein vages Versprechen dabei: „Wir werden hoffentlich im Sommer so viele Menschen geimpft haben, dass wir die Hochrisikogruppe der älteren Menschen besser schützen können“, kündigt er an. „Und dann kommen wir auch in eine Situation, dass die Dinge viel planbarer werden.“ Halleluja!
„Bis wir wieder richtig viel öffnen können, das wird noch viele Wochen dauern, vielleicht einige Monate“, prophezeit die Virologin. „Ich denke nicht, dass wir Mitte Februar so weit sind, dass es zu größeren Lockerungen kommen kann.“
Detailliertester Vorschlag
Weil stellt im Schnelldurchlauf vor, was seine Staatskanzlei als „Handreichung“ für die politische Diskussion ausgetüftelt hat: einen Lockerungsplan mit sechs Stufen nach sinkenden Infektionszahlen.
Das sei „kein Versprechen, kein Automatismus“, bremst der Ministerpräsident die Hoffnungen, und: „Das ist ein Konzept, das eine Verschlechterung der Situation ausdrücklich auch mit einbezieht.“ Uff!
Interessanteste Idee
„Ich habe mit meinen Mitarbeitern im ersten Lockdown auch über Modelle nachgedacht, dass man vielleicht Öffnungen macht, wo nicht alle Geschäfte an jedem Tag geöffnet sind“, referiert Altmaier.
Seine Hoffnung: „Wir müssen noch die nächsten zwei, drei Monate mit dem Virus leben. Und wenn man dann sieht, es sind bestimmte Fortschritte gemacht worden, dann muss es auch möglich sein, differenzierende Maßnahmen zu machen.“
„Aber“, so fügt der Minister gleich hinzu, „es muss dann auch möglich sein, wenn die Zahlen wieder hochgehen, dass man dann sehr schnell in den Bereichen, wo man Leine gelassen hat, auch wieder verschärft.“
Heftigste Vorwürfe
Für Einzelhändlerin Meier ist der Bock endgültig fett: „Wo liefert die Politik, und welche Maßnahmen werden noch ergriffen?“, schießt sie los. „Das ist Gutsherrenstil, mit Belohnung und Bestrafung!“
Härteste Abrechnung
Zum aktuellen Streitthema zitiert Will die Kanzlerin. „Bei der Impfstoffbestellung finde ich, dass wir das Menschenmögliche getan haben.“
„Das halte ich nicht für zutreffend!“, wettert der Professor. „Man hat dicke Fehler gemacht! Der Hauptfehler war, dass man möglichst billig sein wollte!“
Und, so Fuest: „Man hat den Fehler gemacht, nicht wirklich ökonomische Anreize zu geben – etwa durch höhere Preise für frühere Lieferungen.“
Schlüssigste Forderung
Wenn die Firmen jetzt zusätzlich zu dem, was in den „schlechten Verträgen“ stehe, liefern würden, sollte man „ganz dringend sehr hohe Prämien zahlen“, schlägt Fuest vor.
Denn, so der Professor: „Es ist ganz, ganz wichtig, dass das am Montag, also morgen, beschlossen wird. Ich halte es nicht für sinnvoll, da jetzt nach irgendwelchen Schuldigen zu suchen!“
Und wieder Zoff
„Ich bin überzeugt, es wäre am Geld überhaupt gar nicht gescheitert!“, verteidigt Altmaier die Regierungslinie.
„Scheinbar doch!“, stichelt die Talkmasterin.
„Wir haben 750 Milliarden Euro für den Wiederaufbau in den Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt“, rechnet der Minister vor. „Wir haben Hunderte von Milliarden zur Verfügung gestellt, um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen abzumildern!“
Und? „Wenn statt der 2,5 Milliarden fünf, sieben oder zehn Milliarden notwendig gewesen wären“, sagt Altmeier, „dann hätten wir dieses Geld natürlich beschaffen können!“
Der wirkliche Grund für die Probleme sei gewesen, erklärt der Minister wie schon in früheren Talkshows, dass niemand gewusst habe, welcher Impfstoff als erster fertig würde. Und jetzt gebe es bei den Unternehmen eben unvorhersehbare Lieferprobleme. Basta!
Interessanteste Darstellung
„Im Kabinett hat der Gesundheitsminister uns regelmäßig informiert, wie der Prozess in Brüssel vonstattengeht“, fügt Altmaier noch hinzu. „Ich kann mich jetzt nicht an irgendeine Situation erinnern, dass dort der Eindruck war, die Europäische Kommission hat das nicht im Griff.“ Puh!
Weil muss schmunzeln. „Es fällt jedenfalls auf, dass andere Länder sehr viel mehr Geld in die Hand genommen haben als die Europäische Union“, sagt er in großkoalitionärer Kameradschaftlichkeit.
Letzte Hoffnung
Zum Schluss wiederholt Altmaier seine Absicht, Pharmazieunternehmen notfalls zur gemeinsamen Impfstoffproduktion zu zwingen. Da aber bügelt ihn Fuest gnadenlos ab: „Das wäre überhaupt nicht gut, die Idee, dass man das mit einer Kommandowirtschaft lösen könne, quasi planwirtschaftlich!“, warnt der Professor. „Das ist abwegig!“
„Der soziale Wert einer Impfung wird auf 1500 Euro geschätzt“, rechnet der Professor zum Schluss vor. „Die Kosten liegen bei 10 Euro. Selbst wenn wir das Zehnfache zahlen, ist es immer noch ein gutes Geschäft!“
Fazit: Viel heiße Luft im Regierungsballon, viel Angst vor Löchern. Die Kritiker und auch die Talkmasterin schossen mit viel Musik spitze Fragen in die dünne Argumentationshülle. Das war ein Talk der Kategorie „Lock-Flötenkonzert“.