„Anne Will: Gefahr durch neue Corona-Mutanten – wie viel ‚Zumutung‘ braucht es jetzt?“ ARD, Sonntag, 24.Januar 2021, 21.45 Uhr.
Der Chef des Kanzleramts, Sonderaufgabenminister Helge Braun (CDU), hat in der ARD-Talkshow „Anne Will“ am Sonntag eindringlich vor Bestrebungen gewarnt, nach Ende des Lockdowns Mitte Februar zu überhastet in den Normalzustand zurückzukehren.
Brauns unmissverständliche Ansage: „Die Öffnungsstrategie, die wir ab Mitte Februar gerne machen wollen, ist eine, wo wir sagen müssen: Die darf nicht mehr schiefgehen!“
Corona mutiert, der Streit eskaliert, die EU ist blamiert und Anne Will alarmiert. Die Gäste
Braun macht in der Impfstoff-Krise für seine Chefin den Prügelknaben.
Die Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD). möchte Rheinland-Pfalz bis zum Herbst durchgeimpft haben.
Der Intensivmediziner Prof. Uwe Janssens will vor allem „die Infektionszahlen weiterhin drastisch reduzieren“.
Der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Michael Hüther twitterte: „Der Schulausfall in der Pandemie könnte 3,3 Billionen Euro kosten!“
Die Journalistin Vanessa Vu („Zeit“) kritisierte „halbherzigen Maßnahmen“ und „chaotischen Kommunikation“.
Konfusion, Konflikte, Kräche, Kontroversen und am Horizont nicht der kleinste Konsensstreifen!
Hoffnungsvollster Start
Trotzdem hat die Talkmasterin erst mal was Positives zu bieten: „Zu Beginn auch mal eine gute Nachricht“, meldete sie. „Die Zahl der Neuansteckungen sinkt seit Tagen, und das heißt auch, dass die Weihnachtstage nicht zu dem befürchteten Anstieg bei den Ansteckungen geführt haben. Das ist gut!“
Doch die Freude ist kurz: „Wer jetzt schon anfängt zu träumen, dass von Mitte Februar an Lockerungen gemacht werden können“, sagte Will, „dem könnten die Mutationen einen fetten Strich durch die Rechnung machen!“
Eindringlichste Warnung
Der Kanzleramtschef weiß, was jetzt droht: Die Corona-Mutante sei ansteckender als das bisherige Virus und werde sich dynamischer verbreiten, berichtete er.
Brauns besorgte Feststellung: „Die Mutante ist in unserem Land angekommen. Und deshalb wird sie irgendwann, so wie in den anderen Ländern auch, die Führung übernehmen.“
Alarmierendste Zahlen
Ein ARD-Einspieler zeigte Dramatisches: „Die Mutanten breiten sich schnell aus. Die britische Mutante ist schon in 60 Ländern nachgewiesen. In Großbritannien verursacht sie schon 70 Prozent alle Neuinfektionen!“
In einem weiteren Einspieler berichtete der Virologe Christian Drosten von einer Studie, nach der diese Variante „bis zu 35 Prozent infektiöser“ sei. Und „schon wenige Prozente mehr Ansteckungsfähigkeit“, so die Wissenschaftler, „bewirken sofort deutlich mehr Infektionen. In kurzer Zeit vervielfachen sich die Fälle. Ein Wettlauf gegen die Zeit!“
Durchhalteparole des Abends
Die Ministerpräsidentin war aus Mainz zugeschaltet. Die Landesinzidenz in Rheinland-Pfalz liege inzwischen bei knapp unter 100 Infektionen pro Woche auf 100.000 Einwohnern, berichtete sie, aber: „Wir müssen erheblich weiter runterkommen, um wirklich schauen zu können, wie können Öffnungsszenarien aussehen?“
„Wir hoffen, dass wir im Sommer jedem ein Impfangebot machen können“, beruhigte Braun. „Es gibt ja einen Ausweg aus der Krise!“
Dramatischster Appell
Der Intensivmediziner klang weit weniger zuversichtlich: „Wir vermissen ganz klare Ziele, die über den Februar hinausgehen“, kritisierte er.
Seine energische Forderung: „Wir müssen noch klarer die Menschen mitnehmen und ihnen noch klarer beibringen, was tatsächlich auf sie zukommt!“
Düsterste Perspektive
Die südafrikanische Mutante sei gefährlicher als die britische, warnte Prof. Janssens, und die brasilianische sogar erheblich gefährlicher. In der verheerend getroffenen Amazonasstadt Manaus hätten viele Infizierte gar keine wirksamen Antikörper mehr bilden können.
„Das heißt, es stellt sich die Frage, inwieweit die Impfstoffe, die wir jetzt haben, in der Lage sein werden, langfristig diese Mutation“ zu bekämpfen, sorgte sich der Mediziner. „Wir müssen mit den Infektionszahlen runter!“ Denn sonst „haben wir die furchtbare dritte Welle!“
Unterschiedlichste Ziele
Prof. Janssens strebt eine Inzidenz von 10 an, Prof. Hüther wäre schon mit 100 zufrieden. „Was ist eigentlich dauerhaft für uns erträglich?“ fragte der Wirtschaftswissenschaftler. Seine Prophezeiung: „Wir werden im nächsten Winter Corona-Infizierte haben. Wir werden im nächsten Winter Corona-Tote haben. Mit welchem Umfang kommen wir zurecht? Wir müssen uns mit dem Risiko irgendwie ins Verhältnis setzen!“
Umstrittenste Idee
Der nächste Einspieler stellte das No-Covid–Papier vor, in dem 13 Wissenschaftler eine neue Strategie fordern: Kein „kurzfristiges Hangeln“ von einem „Wischi-Waschi-Lockdown“ zum nächsten, sondern wie in Australien die Inzidenz mit harten Einschränkungen schnell auf Null bringen. Mobilitätskontrollen, Tests, Quarantäne…
Das Ziel: Passgenaue regionale Maßnahmen statt bundesweiter Pauschalverbote.
Journalistin Vu war voll überzeugt. „Die Strategie ist eine langfristig tragbare“, urteilte sie, ärgerte sich aber, weil Hüther gesagt hatte, man müsse mit der Pandemie leben: „Was ist das für ein zynischer Umgang mit Menschenleben?“ wetterte sie. „Das ist ein Schlag ins Gesicht für alle, die gerade ihre Angehörigen verlieren! Eine Kapitulation vor diesem Virus!“
Wie bitte? Moral statt Wissenschaft? „Ich finde es keine hilfreiche Diskussion, dem anderen gleich vorzuwerfen, er nehme Todesfälle in Kauf“, beschwerte sich Hüther und keilt zurück: „Sie nehmen die vielen Todesfälle in Kauf, die Sie mit der wirtschaftlichen Zerrüttung verursachen!“
Sein massives Argument: Eine Studie in den USA gehe von etwa 900.000 Todesfällen in den nächsten 15 Jahren durch Corona-Folgeschäden wie etwa Arbeitslosigkeit aus. Rumms!
Optimistischste Prognose
Auch Dreyer ist kein Fan der Kahlschlag-Idee: „Ich halte eine Zero-Covid-Strategie bei uns für nicht realisierbar“, sagte die Ministerpräsidentin klipp und klar. Denn: „Bis zum 12.Februar laufen wir in den vierten Monat eines Lockdowns. Die Menschen brauchen eine Perspektive!“
Aber, so ihre Hoffnung: „Ich glaube, dass wir Mitte Februar bessere Zahlen haben und dann wirklich in Ruhe vorher überlegt haben, was kann man sich zutrauen und was nicht.“
Und wieder Zoff
Der Intensivmediziner schüttelte heftig den Kopf: „Wenn die Ministerpräsidenten Lockerungen machen, werden die Zahlen wieder nach oben gehen!“ fürchtet er. „Davor haben wir wirklich Angst und Sorge! Wir müssen den Menschen ein positives Ziel geben und nicht dauernd Angst!“
„Wir nehmen das total ernst!“ wehrte sich Dreyer. „Sie dürfen nicht so tu, als würden wir das ignorieren!“ Aber: „Ich weiß, dass viele Menschen verzweifelt sind! Dass es in vielen Betrieben um Existenzen geht!“
Unwillkommenste Feststellung
„Deutschland ist bei mehr als 50.000 Toten“, registrierte die Talkmasterin, „und hat inzwischen tägliche Todesfälle, die im Bereich dessen liegen, was die USA haben, wo wir doch damals immer gesagt haben, unter Trump sei das einfach katastrophales Pandemie-Management. Da sind wir jetzt auch.“ Uff!
Vollmundigstes Versprechen
„Wir haben im Moment zu wenig Impfstoff“, klagte die Ministerpräsidentin. „Das ist auch für uns ärgerlich. Wir haben mit einem riesigen Kraftaufwand die Impfzentren aufgebaut.“
Aber: „Sobald mehr Impfstoff da ist, werden wir mit hochgradiger Geschwindigkeit weiterimpfen!“
Ehrlichstes Eingeständnis
„Hätten wir die Maßnahmen, die wir jetzt machen, Mitte Oktober gemacht, hätten wir sicherlich viele Todesfälle vermeiden können“, gestand Braun ein. Sehr ehrenhaft – aber wer genau ist „wir“? Die Bundesregierung? Die Ministerpräsidentenkonferenz? Wir alle, das Volk?
Über die Konsequenz aus dieser bitteren Erkenntnis sei er aber froh, sagte Braun weiter. „Da war die zweite Ministerpräsidentenkonferenz noch mal sehr wichtig. Wir haben jetzt innerhalb von einer Woche eine Reduzierung der Neuinfektionszahlen um 28 Prozent.“
Massivster Vorwurf
Die Talkmasterin konnte es kaum glauben. „Das ist doch ein Wahnsinn, dass der Kanzleramtsminister und auch die Kanzlerin sich nicht durchsetzen konnten, weil die Ministerpräsidenten ihren Weg offenbar nicht mitgegangen sind!“ wetterte sie.
Und weiter: „Damit sagten Sie doch eigentlich, die falschen politischen Entscheidungen haben Menschen das Leben genommen!“
Interessantestes Ablenkungsmanöver
Doch darauf ging Braun lieber nicht mehr ein: „Die nächste Herausforderung, vor der wir stehen, ist die Mutante“, erklärte der Minister stattdessen.
Denn: „Damit die Leute wieder Hoffnung auf Öffnung haben, müssen wir auch sagen: Wenn wir noch mal so einen Jojo-Effekt haben, dann verbreitet sich die Mutante so stark, dass wir sie wirklich als führende Variante in Deutschland haben.“
Trübste Aussicht
„Die Kosten, die wir gesellschaftlich insgesamt gerade tragen, sind im Bildungssystem fast nicht mehr einzuholen“, urteilte Prof.Hüther. „Wir müssen frühzeitig die Grundschulen wieder öffnen, und wir müssen frühzeitig eine Perspektive für Wechselunterricht geben!“
„Wir werden dafür sorgen“, gelobte die Ministerpräsidentin, „dass die Kinder nicht die Verlierer dieser Pandemiesind.“ Amen!
Überzeugendstes Bild
Der Intensivmediziner nahm sich nochmal die Politiker zur Brust: „Jetzt stehen da 16 Ärzte um den Patienten Deutschland herum, mit einer Chefärztin, und jeder hat eine ganz andere Meinung“, malte er sich aus.
Und: „Da wird die halbe Dosis Antibiotika gegeben. Der Patient erholt sich, aber nicht so richtig, und kommt in den zweiten und dritten Schub rein, und die Keime werden resistent. Das ist genau das Bild!“
Fazit: Viel Enthusiasmus im Eigensinn und reuevolle Bekenntnisse auf Kosten anderer, mancher Vorwurf flog dem Absender als Bumerang um die Ohren, dazu peinliche Beispiele tagespolitischer Kurzdenke: Das war ein Talk der Kategorie „Viele Köche“.