„Anne Will: Wahl-Eklat in Thüringen – welche Konsequenzen hat der Tabubruch?“ ARD, Sonntag, 9.Februar 2020, 21.45 Uhr.
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) hat in der ARD-Talkshow „Anne Will“ am Sonntag mit einem unerwarteten Statement große Irritationen ausgelöst.
Gegen Ende der Sendung hatte der Juso-Chef und SPD-Vize Kevin Kühnert über das Wahl-Debakel in Thüringen gesagt: „Die AfD hat diesen Vorgang beeinflussen können – und das ist eine beklemmende Parallele zur deutschen Geschichte – weil sie ermächtigt worden ist, zum ersten Mal echte Macht im Parlament zu haben, eine Personalentscheidung treffen zu können!“
Darauf antwortete Altmaier: „Wenn Sie sagen, die AfD ist ermächtigt worden, dann spielen Sie an auf das Ermächtigungsgesetz unter Hitler, wo Teile meiner Partei, leider Gottes, anders als Ihre Partei, für Adolf Hitler und sein Ermächtigungsgesetz gestimmt haben. Das war eine Katastrophe.“
Kühnert runzelte verblüfft die Stirn. FDP-Vize Wolfgang Kubicki staunte: „Da gab‘s die CDU noch gar nicht!“ Die Talkmasterin spottete: „Nicht alles, was hinkt, ist ein historischer Vergleich!“
Nein, ein Vergleich war das nicht. Es war eine völlig sinn- und auch haltlose Behauptung. Die CDU bildete sich Ende 1945, der erste Parteitag fand 1950 statt.
Es war nicht der erste Blackout des Ministers in dieser Sendung. Schon zuvor war der Wirtschaftsminister kurz aus dem Tritt gekommen: Der FDP-Kurzzeitpräsident Thomas Kemmerich sei „nach einem Gespräch mit Herrn Westerwelle“ zurückgetreten, sagte er allen Ernstes.
„Lindner!“ verbesserte die Runde im Chor. Guido Westerwelle ist seit 2016 tot, Christian Lindner seit 2017 FDP-Chef.
Die verworrene Lage in Erfurt führt auch in der Talkshow zu ungewöhnlich heftigen Auseinandersetzungen: Für die einen ist es ein demokratischer Selbstreinigungsprozess, für die anderen ein antifaschistisches Fegefeuer. Die Gäste:
Bundestagsvizepräsident Kubicki feierte die Wahl des thüringischen FDP-Kollegen anfangs als „großartigen Erfolg“ der „demokratischen Mitte“, ruderte dann zurück.
Wirtschaftsminister Altmaier ist in Talkshows ein bestens bewährter Bombenentschärfer im Dienst der Kanzlerin.
Die AfD-Fraktionschefin Alice Weidel jubelte auf Twitter, an der AfD führe nun kein Weg mehr vorbei, die „linke Ausgrenzungsstrategie“ sei gescheitert. Hm.
Juso-Chef Kühnert schimpfte in Farbe: „Blau-schwarz-gelbe Schande!“
Die Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht urteilte noch härter: „Ein Gaunerstück!“
Die Journalistin Melanie Amann spottete: „Die CDU hat sich mit der AfD ins Bett gelegt!“
Daraus ergab sich eine politische Putz— und Flick-Stunde mit großem Staraufgebot und extremem Zoff-Potential. Für Frau und Kinder des FDP-Kandidaten aber, denen eine racheschnaubende Meute mit Hassparolen auf den Fersen ist, tat der Talk wenig. Nur Kubicki erinnerte an die Opfer der Hetzkampagne. Die anderen beharkten sich lieber, und zwar ununterbrochen. Ehrlichstes Geständnis
Die Schandwahl von Erfurt sei „eine Blamage für ganz viele, auch aus meiner Partei“, gab Altmaier gleich zu Beginn zu.
Kühnert forderte Neuwahlen, „weil jetzt ganz viele Wähler von CDU und FDP bestimmt ihr Votum ändern wollen!“
Umstrittenster Vorschlag
Ein ARD-Einspieler zitierte AfD-Chef Alexander Gauland mit der Anregung, seine Parteifreunde in Thüringen sollten jetzt für Bodo Ramelow stimmen, damit es dem Linken ebenso wie zuvor dem FDP-Kandidaten unmöglich werde, ins Amt zu kommen.
„Das war ironisch gemeint!“ behauptete Weidel schnell und ging sofort zum Angriff über: Die Forderung der Kanzlerin, die Wahl rückgängig zu machen, erinnere sie an die DDR.
Kniffligste Frage
„Warum hat sich Ramelow denn überhaupt zur Wahl gestellt, wo er doch keine Mehrheit hat?“ erkundigte sich die Talkmasterin.
Doch Wagenknecht schwurbelte locker drüber weg: Ramelow habe ja doch versucht, mit der CDU eine Kooperation zu erreichen, sagt sie. Den Versuch einer Minderheitsregierung nannte sie „mutig“.
Jeder gegen jeden
Dann redeten alle minutenlang durcheinander: Kühnert drosch auf Altmaier ein, Amann auf Kubicki, Wagenknecht auf Weidel und Weidel auf alle.
Unwillkommenste Feststellung
„Für viele CDU-Wähler in Thüringen ist Herr Ramelow schlimmer als Herr Höcke“, gab die „Spiegel“-Journalistin zu bedenken.
Will erinnerte an den Rauswurf des Ostbeauftragten Christian Hirte wegen eines Gratulations-Tweets an Kemmerich. Auch Kubicki habe gratuliert – müsse er jetzt seinen Posten als Bundestags-Vize räumen?
„Wir lösen niemanden ab wegen eines Tweets“, behauptete Altmaier. Der Ostbeauftragte habe schon vorher das Vertrauen seiner Partei verloren. Ach so.
Unglaubwürdigste Behauptung
„Führung ist angesagt in Ihrer Partei“, ermahnte der Juso-Chef den Minister, „und die sehe ich im Moment nicht, und das macht mir ernsthaft Sorgen!“ Echt jetzt?
Altmaier wollte sich in Sarkasmus retten: „Ich bin ja beruhigt, dass es offenbar in der SPD zu jeder Zeit klare Führung gibt!“ konterte er.
Wie viele andere hat auch der Juso-Chef das Austeilen besser drauf als das Einstecken: „Ich glaube, das ist jetzt nicht die Zeit dafür!“ erwiderte er patzig.
Spagat des Abends
Als Hauptproblem galt der Runde der Unvereinbarkeitsbeschluss der Union gegen Linke und AfD. „Wir haben es klar gesagt: Wir haben den Anspruch, dass das auch in den Landesverbänden jederzeit respektiert wird!“ betonte Altmaier.
Aber, so der Minister weiter: „Natürlich ist das Prinzip der Meinungsfreiheit und des freien Mandates eines, das man nicht außer Kraft setzen kann!“
Interessanteste Deutung
Thüringens CDU-Landeschef Mike Mohring habe versucht, mit Ramelow zu reden, doch, so Altmaier: „Er hat die dabei die Zustimmung seiner Fraktion verloren und muss deshalb zurücktreten.“
„Das ist eine schwierige Situation“, fasste der Minister seine Sicht der Dinge zusammen, „und trotzdem kämpfen wir um die Zustimmung und Überzeugung unserer Kollegen im thüringischen Landtag, mit persönlichem Respekt und ohne Verleumdung!“
Kompliziertester Dialog
FDP-Vize Kubicki erinnerte daran, wie er den schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Daniel Günther habe verteidigen müssen, weil der als CDU-Politiker mit den Linken über Sachthemen reden wollte.
„Weil wir einen klaren Parteitagsbeschluss haben!“ entgegnete Altmaier.
Das überzeugte Kubicki keineswegs: „Ja, aber dann können Sie sich doch jetzt nicht hinstellen und sagen…“
Der Minister suchte Entlastung mit einem Hinweis auf CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak, der eine Zusammenarbeit mit der Linken in Thüringen klar ablehnt: „Sie können ihm doch nicht übelnehmen, dass er die Parteitagsbeschlüsse der CDU vertritt, die für uns alle bindend sind!“ rief Altmaier.
Strengster Tadel
Jetzt wurde es der Talkmasterin zu viel. „Aber Herr Altmaier!“ funkte sie dazwischen. „Jetzt widersprechen Sie sich ja eklatant! Gerade haben Sie gesagt: Wir können den Landtagsabgeordneten der CDU in Thüringen nichts vorschreiben. Dann sagen Sie, also ein Parteitagsbeschluss, da muss sich auch ein Ministerpräsident dran halten. Also was gilt denn jetzt?“
Ihre Kritik: „Das ist ein schwaches Bild, das Sie von der CDU zeichnen! Da ist überhaupt keine Linie mehr in der CDU!“
Schönste Krokodilstränen
Dann wurde Wagenknecht staatsmännisch: „Von dieser Debatte profitiert nur die AfD!“ schimpfte sie, „weil alle nur über die AfD reden, und nicht über die Inhalte!“
Auch „Spiegel“-Amann machte sich Sorgen: „Wenn jetzt alle übereinander herfallen, wie sollen denn die Leute in Thüringen dann noch mal zur Wahl gehen?“
Das härteste Urteil fällte Amann über Annegret Kramp-Karrenbauer: „Sie hängt mit einem Bein am Steigbügel und wird hinter dem Pferd hergezogen!“
Das war ein rumpeliges Nachbeben mit hohem Krawallbedarf, die Toleranz wurde ins Unterirdische versenkt, der Wähler schlackerte mit den Ohren und aus dem Grauen der Vergangenheit grinsten Gespenster. Motto: „Ungeisterstunde“.