„maischberger.die woche“. ARD, Mittwoch, 1.April 2020, 22.50 Uhr.
Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hat in der ARD-Talkshow „maischberger.die woche“ angekündigt, Nordsee-Strände seines Bundeslandes fan den Osterfeiertagen zu schließen.
Wörtlich sagte der Politiker: „Wir werden in Niedersachsen über die Ostertage Strände sperren, auch Inseln. Wir wollen keine Reiseziele anbieten. Wir wollen es unattraktiv machen, loszufahren!“
Über die Akzeptanz seiner Maßnahmen in der Bevölkerung sagt Weil ernst: „Ich habe teilweise am Telefon Unternehmern, die weinen, die aber nicht bestreiten, dass wir ein sehr ernsthaftes Anliegen haben!“
Die Kanzlerin hat die zweite Runde im Rennen gegen das Virus gestartet. In „maischberger.die woche“ fragte ARD-Talkmasterin Sandra Maischberger jetzt ein hochkarätiges Kompetenzteam nach Kurs, Ziel und Gefahren. Die Mitglieder:
Stephan Weil fordert: „Nehmt bitte Corona sehr, sehr ernst!“
Der Epidemiologe und Gesundheitsökonom Stefan Willich drückt auf die Bremse: „Strikte Ausgangssperren wären nicht gerechtfertigt!“
Die Journalistin Claudia Kade („WELT“) bleibt optimistisch: „Das Land verändert sich auch zum Guten!“
Der Journalist Jakob Augstein („Freitag“) fürchtet: „Uns droht eine moralische Überforderung!“
Die Schauspielerin Jutta Speidel kümmert sich um obdachlose Mütter und Kinder und klagt: „Uns hat die Krise mit voller Wucht getroffen!“
Der Kabarettist Florian Schroeder haut seine Pointe im Home Office über Youtube und Instagram raus.
Dieser 1.Aoril verlockte nicht zu Scherzen! Brandheißer Start: Der erste Einspieler zeigt, wie der SPD-Abgeordnete Florian Post aus Bayern ein Adidas-T-Shirt den Feuertod sterben ließ.
Die WELT-Journalistin verstand die Empörung über den „Milliardenkonzern“, patzte aber auch den Zündler an: „Stilloses Profilieren in dieser Krise. Effekthascherisch!“
Interessantester Gegensatz
„Mein Empörungspotential wird bei dieser Krise in vielerlei Hinsicht getriggert, aber komischerweise da überhaupt nicht“, urteilte Augstein milde. Die Vermieter der Konzernfilialen seien ja schließlich auch keine kleinen Fische.
„In Österreich wird eine Maskenpflicht eingeführt, aber für die Bundeskanzlerin sind Masken eigentlich nur Virenschleudern“, wunderte sich die Journalistin. „Also wenn da nicht fundiert nachgelegt wird, haben wir ein Akzeptanzproblem!“
Schnellste Attacke
Das hatte Augstein längst: „Dass Angela Merkel so drastisch ausgeschlossen hat, jetzt schon über die Aufhebung zu sprechen, das halte ich echt für verantwortungslos!“ bollerte er.
„Ich finde es verheerend, dass Angela Merkel den Deckel drauflegen will!“ schimpfte auch die Kollegin.
Und Augstein setzte noch einen drauf: „Da kriege ich fast vor den Maßnahmen mehr Angst als vor den Krankheiten!“
Frage des Abends
Wieviel Infizierte gebe es denn nun wirklich? wollte die Talkmasterin Sandra Maischberger wissen.
„Das sind Zahlen, über die kein Menschen Bescheid weiß“, gab der Epidemiologe ohne Umschweife zu. Ob die wirkliche Zahl nur fünf oder sogar zehn Mal so hoch sei wie die bisher gemeldeten 73.000, sei „völlig spekulativ!“
Aber: In Italien liege das Durchschnittsalter der Verstorbenen bei 80 Jahren, und die Hälfte habe drei oder mehr ernsthafte chronische Erkrankungen gehabt: Diabetes, Herz, Nieren, Lunge…
Verblüffendstes Urteil
„Auch in Deutschland sind zwei Drittel aller Todesfälle über 80 Jahre“, stellte der Experte fest. „Das sind erst mal sehr, sehr gute Nachrichten!“
Denn, so Willich weiter: „Weil wir wissen, dass für einen ganz großen Teil diese Viruserkrankung nicht gefährlich ist!“ Vor allem, anders als die Grippe, nicht für Kinder, Jugendliche und schwangere Frauen.
Überraschendste Kritik
Über die Hoffnung der Bundeskanzlerin, die Zeit bis zur Verdoppelung der Infektionen von sechs auf zehn Tage zu strecken, urteilte der Epidemiologe kühl: „Diese Zahl ist nicht belastbar. Ich glaube, sie ist in die Welt gesetzt worden, um das Durchhalten zu stimulieren!“
Zwar müsse der Wiedereinstieg ins normale Leben möglichst bald passieren, fügte Willich hinzu, „aber das persönliche Schutzverhalten, das Händewaschen, das Husten in die Armbeuge, dass Abstandhalten müssen wir aufrecht erhalten – zum Schutz der Hochrisikopatienten!“
Erstaunlichste Info
Aus den Nachbarländern weiß der Epidemiologe: „Wir sehen im europäischen Kontext seit sieben Tagen einen sehr beruhigenden Trend, nämlich dass die Fallzahlen nicht mehr anwachsen, sondern stabil bleiben.“
Und das, „obwohl es in den Ländern ganz unterschiedliche Einschränkungen gibt – von der strikten Ausgangsperre in Spanien bis nach Schweden, wo die Schulen, die Kitas, die Skiorte offen bleiben.“ Nanu?
Einleuchtendste Erklärung
„Das zeigt, dass diese restriktiven Maßnahmen nicht der entscheidende Faktor sind“, erklärte der Epidemiologe. „Was alle gemeinsam machen, ist, dass sie appellieren an die persönlichen Infektionsschutzmaßnahmen!“
Emotionalstes Bekenntnis
über die 22 Toten in dem Wolfsburger Altenheim sagte Ministerpräsident Weil sichtlich betroffen: „Das hat mich kalt erwischt. Ich kannte das als theoretisches Hauptrisiko, aber wenn ich das jetzt sehe, dann geht mir das unter die Haut!“
Auf den Vorwurf, zwar hätten Krankenhäuser Schutzausrüstung bekommen, Altenheime aber nicht, antwortete der Politiker: „Die gute Nachricht ist, dass in China die entsprechende Produktion wieder hochgelaufen ist, und das wird helfen.“
Seine Hoffnung: „Wir stellen in vielen deutschen Unternehmen fest, dass man dort gerade die Produktionslinien umstellt, und dass wir dann hoffentlich auch aus deutscher Produktion in sehr kurzer Zeit entsprechende Hilfe erreichen.“
Sympathischster Aufruf
Jutta Speidel, aus München zugeschaltet, schützt dort seit 20 Jahren in zwei Häusern Frauen und Kinder vor Obdachlosigkeit und Gewalt. Zurzeit aber muss sie Hilfesuchende abweisen: Ansteckungsgefahr! Kein Platz!
„Wir mussten unser beiden Kitas schließen, unsere Werkstätten, unsere Bildungsstätten“, klagte sie nun.
Aber: „Wir haben auch eine kleine Schneiderei“, berichtete die Schauspielerin zum Schluss und band sich einen buntes Tuch vor: „Eine der Mütter näht seit einer Woche Mundschutz. Sie kommt aus Afrika. Jeder kann über eine Spende diesen Mundschutz erwerben!“
„Perfekt!“ lobte die Talkmasterin. „Sie haben den Mundschutz auf Anhieb besser aufgesetzt als Armin Laschet!“
Dann gab es doch noch Zoff
„Habe ich Sie eben richtig verstanden?“ fragte Augstein den Epidemiologen. „In Holland und Schweden wird das ganz anders gefahren, und dort entwickeln sich die Zahlen trotzdem gut?“
„Genau“, bestätigte Willich.
„Können Sie das vielleicht den Politikern erklären?“ setzte der Journalist nach. „Warum müssen wir alle zu Hause bleiben und die anderen nicht?“
Diplomatischste Erklärung
Weil passte die Frage so gar nicht ins Konzept: „Und wenn Sie dann Herrn Augstein vielleicht noch etwas über die Todesrate in den Niederlanden sagen würden“, konterte er.
Doch der Experte zog sich elegant aus der Affäre: „In verschiedenen Ländern erreichen Sie dasselbe Ziel mit unterschiedlichen Maßnahmen.“
Zäheste Nachfrage
Augstein versuchte trotzdem noch mal, den Pudding an die Wand zu nageln: „Wenn wir jetzt sehen, dass es in anderen Ländern möglich ist, das gleiche Ziel mit weniger einschneidenden Maßnahmen zu erreichen – müssten Sie das dann nicht machen?“ insistierte er unverdrossen.
„Vorsicht an der Bahnsteigkante!“ erwiderte Weil markig, kam dann aber ins Schwurbeln: In Asien seien die Leute diszipliniert, in England oder USA sei die Regierung zu lange untätig gewesen, und bei uns würden „alle mitziehen“. Alles richtig, aber keine Antwort auf die Frage!
Zu den Problemen der Bundesliga sagte der fußballbegeisterte Ministerpräsident: „„Mich machen Geisterspiele überhaupt nicht an. Dann kann man es auch bleiben lassen!“
Dramatischste Warnung
„Wenn die Arbeitslosenzahl ansteigt und die Armut wächst, werden wir in ein, zwei, drei Jahren erhebliche gesundheitliche Probleme bekommen!“ warnte der Epidemiologe.
Denn, so Willichs düstere Prophezeiung: „Dann haben Sie es mit psychischen Erkrankungen, mit Suchterkrankungen zu tun, mit Herz-Kreislauferkrankungen. Armut ist weltweit der wichtigste Prediktor (Vorhersagefaktor) für Erkrankungshäufigkeit, für Erkrankungsschwere und für Sterblichkeit!“
Fazit: Viel Sachverstand, erfahrenes journalistisches Fachpersonal, aber auch viel Politikersprech („Eine wichtige Entscheidung, vor der ich großen Respekt habe“) und oft nur steriles Eigenlob statt fruchtbarer Kontroversen: Das war eine Talkshow der Kategorie „Halbgar“.