31.März 1945
Karsamstag, 31.März 1945. Einen Tag vor dem Osterfest droht der kleinem Stadt Ahlen im Münsterland ein Inferno: In 13 Lazaretten liegen über 4000 Verwundete – und die Spitzen der 2.US-Panzerdivision rollen in hohem Tempo heran, das Ruhrgebiet endgültig zu umzingeln.
In dieser Lage erlässt der Nazi-Kreisleiter im nahen Beckum, Wilhelm Wemhöner, einen sinnlosen Durchhaltebefehl: „Die Stadt wird verteidigt!“ Doch als daraufhin tatsächlich ein Häufchen Widerstandwilliger mit Panzerfäusten losziehen will, stellt sich ihnen ein mutiger Mann in den Weg: Oberfeldarzt Dr.med Paul Rosenbaum will Ahlen als „offene Stadt“ kampflos übergeben.
Der Mediziner weiß, dass er sein Leben riskiert: Überall streifen Hitlers schwerbewaffnete „Kettenhunde“ umher, hängen kampfesmüde Soldaten und Zivilisten kurzerhand als „Deserteure“ und „Feiglinge“ auf.
Am Mittag richten in breiter Front US-Panzer die Kanonen auf Ahlen. Vierzig Geschütz-Batterien sind feuerbereit. Sollten Deutsche auch nur ein paar Schüsse abfeuern, wird die Antwort der Amerikaner die Stadt in ein Trümmerfeld verwandeln. Da fährt Rosenbaum mit einer Rot-Kreuz-Flagge hinaus, und das Wunder geschieht: In dramatischen Verhandlungen mit US-Oberst Sydney R.Hinds gelingt es dem Arzt in letzter Sekunde, die Vernichtung der Stadt zu verhindern.
Vor 75 Jahren, in den letzten Wochen vor dem Ende des Krieges, erlebt auch Nordrhein-Westfalen viele solche Beispiele heldenhafter Selbstaufopferung deutscher Soldaten und Zivilisten.
Zehn Kilometer weiter östlich, in Beckum, sieht sich der erst 28 Jahre alte Major Rudolf Dunker ebenfalls vor einer gefährlichen Aufgabe: Auch diese Stadt ist nicht zu halten – doch wenn sie fällt, ist der Ruhrkessel praktisch zu, sind 350.000 deutsche Soldaten eingeschlossen.
Nordwestfalens Gauleiter Dr. Alfred Meyer, einst Teilnehmer an der berüchtigten „Wannsee-Konferenz“ von 1942 zur Vernichtung der europäischen Juden, fordert per Telegramm aus Münster: „Beckum ist wegen seiner strategischen Bedeutung bis zum letzten Mann zu verteidigen!“ Und in der Stadt steht ein Bataillon SS…
Oberfeldarzt Dr. Rosenbaum weiß, was den Nachbarn bevorsteht. Um 22.45 Uhr ruft er in Beckum an und bittet den Major, „für die Erhaltung möglichst vieler deutscher Leben einzutreten“. Denn, das weiß der Mediziner von den Amerikanern, „der Befehl zur Zertrümmerung von Beckum mit allen verfügbaren Waffen ist bereits für 23.30 angesetzt!“
Nach hektischen Verhandlungen mit US-Oberst Sydney R.Hinds – der Historiker Willi Mues aus Erwitte hat sie in seinem Buch „Der große Kessel“ dokumentiert – diktiert Major Dunker zwei Minuten vor Mitternacht Dr.Rosenbaums Sekretärin am Telefon seine Entscheidung: „Da ich die Verantwortung nicht tragen kann, dass die Stadt Beckum einem starken feindlichen Aufmarsch ausgesetzt wird, dessen Auswirkungen die völlige Zerschlagung der Stadt, der Einwohner und der Truppen herbeiführen würden, sehe ich mich gezwungen, ohne vorherige Befragung meiner Vorgesetzten Beckum zur offenen Stadt zu erklären. Ich werde meinem Leben ein Ende machen.“
Doch der Arzt unterbricht ihn sofort: „Sie müssen sich vor der Geschichte nicht schämen, Herr Major! Männer wie Sie können wir in Deutschland brauchen!“
Beckum mit seinen 15.000 Einwohnern bleibt verschont, Dunker löst sich mit seinen Soldaten vom Feind und meldet sich am Ostersonntag mittags auf dem nächsten Gefechtsstand in Oestinghausen.
„Ein schweres Donnerwetter brach über mich herein, ich sollte sofort vor ein Standgericht gestellt und erschossen werden“, berichtet er später. Doch höhere Offiziere schützen ihn, und als das fliegende Feldgericht hinter ihm her ist, schlagen sie ihm vor, zu den Amerikanern überzulaufen.
Dunker lehnt ab und bricht am 8.April sogar mit eine Handvoll Männer durch den Einschließungsring um Werl. Am 14.April gerät er in Appricke zwischen Möhnetalsperre und Iserlohn nach kurzem Ortskampf in Gefangenschaft. Sie rettet ihm das Leben, zwei Tage, bevor der Ruhrkessel endgültig zusammenbricht.
Morgen: Von der Lippe zur Ruhr