Vor 75 Jahren, im März 1945, endete der Zweite Weltkrieg auch für Hessen. Die Moral der Bevölkerung war nach verheerenden Bombenangriffen auf dem Tiefpunkt, doch die NS-Verbrecher forderten Widerstand bis zur letzten Patrone. Ihre schlimme Parole: „Frankfurt ist kein Lumpennest, Frankfurt hält zum Führer fest!“
Donnerstag, 22.März 1945: Ein herrlicher Frühlingstag, fast wolkenloser Himmel – schlechtes Wetter für die geschundene Stadt: Bald stehen Rauchmarkierungszeichen über dem Rhein-Main-Flughafen, dann werfen 109 Bomber ihre tödliche Fracht. Danach regnen 40.000 Flugblätter auf Fechenheim, Heddernheim und Preungesheim nieder: „USA-Panzer jetzt in Ludwigshafen“ – „Amerikaner in Mainz“ – „Amerikaner in Worms.“
Die Zettel sollen den Frankfurtern zeigen, dass der Krieg verloren ist und nur noch wenige Tage bleiben, die Stadt kampflos zu übergeben. Dabei steht die wichtigste Nachricht noch aus: Auch der Rhein, auf den die Nazis hoffen, ist kein Hindernis mehr.
Denn 30 Kilometer südwestlich kauern an diesem Tag Soldaten der 5.US-Infanteriedivision an der Straße zum kleinen Hafen von Oppenheim. Exakt um 21.45 Uhr hasten sie zu den Booten des 204.US-Pionierbataillons. Am anderen Ufer stoßen sie auf sieben völlig überraschte deutsche Soldaten. Die Landser ergeben sich und paddeln unbewacht, aber gehorsam über den Strom in Gefangenschaft.
Die friedliche Episode steht im grotesken Gegensatz zur Panik und Propaganda der Tage, in denen sich Frankfurts Schicksal entscheidet: Die Nazis fordern Kampf bis zur letzten Patrone – und hauen als erste ab. In Bingen etwa hält NS-Kreisleiter Johannes Zehfuß vor verängstigten Frauen und Kindern im Luftschutzkeller am Bürgermeister-Neff-Platz eine donnernde Durchhalterede und macht sich dann per Boot nach Rüdesheim davon.
Die Amerikaner feiern den leichten Sieg als Triumph und ihren General George S. Patton als neuen Blücher: In nur zehn Tagen hat er mit der 3.US-Armee das Moseltal durchstoßen und Koblenz erobert, den Hunsrück und Rheinhessen durchquert und seine Truppe über den deutschen Schicksalsstrom gesetzt – so wie der berühmte Preuße 1813/14 bei Kaub. „Lovely weather to kill Germans!“ – “Entzückendes Wetter, um Deutsche zu töten!” strahlt der General.
Die militärischen Kräfte sind höchst ungleich verteilt, der amerikanischen Menschen- und Materialwalze stehen nur noch schwache deutsche Truppen im Weg. Die Alliierten rücken mit
3.725.000 Soldaten und 6000 Tanks zum Rhein vor, die Deutschen haben zwar noch eine Million Mann, darunter aber nur wenige erprobte Frontsoldaten – und gerade mal 500 Panzer. Manche „Magenkranken-Kompanie“ kommt frisch aus dem Lazarett. Und manche Truppe ist „die reinste Kinderschule“, wie Hans Schiebel aus Mainz, damals 14 Jahre alt und doch schon „Volkssturmmann“, seinen verlorenen Haufen nennt.
Bei Trebur soll der Junge Schützengräben ausheben. Als seine Schwester auftaucht, um ihn nach Hause zu holen, reißt sich Hans die Uniform herunter und türmt. Die Eltern verstecken ihn im Keller: Auf Fahnenflucht steht der Tod. Überall in Deutschland zerren in diesen Tagen Feldjäger, die gefürchteten „Kettenhunde“, geflohene Soldaten aus ihren Verstecken, schießen sie als „Feiglinge“ nieder oder hängen sie als „Deserteure“ auf.
„Frankfurt ist kein Lumpennest, Frankfurt hält zum Führer fest!“ dröhnt die Nazi-Propaganda. Die City ist ein Trümmerfeld, der schlimmste Luftangriff liegt auf den Tag genau ein Jahr zurück. Die Nazis setzen auch die eigene Gefolgschaft mit Angstparolen unter Druck: „Jüdischer Polizeichef in Köln!“ warnt eine Schlagzeile – jeder Frankfurter, der eine Untat an jüdischen Mitbürgern auf dem Gewissen hat, soll sich vorstellen können, was ihn nach dem Einmarsch erwartet.
Hitler hofft, dass die Alliierten nach den „Pyrrhussiegen“ in der Normandie und im niederländischen Arnheim weitere Blutopfer scheuen. Doch Amerikaner und Briten mindern ihr Risiko nicht etwa durch Zurückhaltung, sondern schicken jedem Angriff erst einmal einen vernichtenden Bomben- und Granatenhagel voraus. Auch Frankfurt droht so die totale Zerstörung.
Ein fanatischer Anhänger des „Führers“ prahlt, er werde sein Haus persönlich mit der Waffe verteidigen. Doch als es so weit ist, gibt er lieber auf, und als er aus der Gefangenschaft entlassen wird, erzählt er ganz begeistert von den „netten Negern“.
In Rheinhessen verlieren die Menschen schon bald alle Furcht vor den Feinden und begrüßen sie als Befreier: „Überall hingen zum Zeichen der Kapitulation improvisierte Fahnen, Bettlaken, Handtücher, Stofffetzen“, schildert Heinz Leiwig in seinem Standardwerk „Finale 1945 Rhein-Main“. „An den Türen standen ängstlich oder staunend die Deutschen. Kinder winkten.“
Bald auch wird abgerechnet: „Deutsche kommen mit langen Listen auf uns zugerannt“, schreibt US-Journalist Peter Furst in der US-Truppenzeitung „Stars und Stripes“. „12 Jahre lang aufgespeicherter Hass entlädt sich. Die Wut über die kleinen Spitzel, die primitiven Quäler in der Nachbarschaft, über die örtlichen Bonzen, die ‚Durchhalten’ und ’Aufhängen’ riefen, während sie schon heimlich die Koffer packten…“
Doch obwohl auch in Frankfurt jetzt jeder weiß, dass die Amerikaner nichts mehr aufhalten kann, sind die Leiden der Stadt noch nicht zu Ende.
Morgen: Der letzte Gegenstoß